Der 19 Jahre alte Radprofi wurde mit dem deutschen Bahnvierer schon Vizeeuropameister. Damit wächst die Hoffnung auf einen Start in Rio de Janeiro

Wedel. Weihnachten, das traditionellste aller Familienfeste: Nur für Mutter Rona Rohde ist es gar nicht so einfach, ihre vier Männer wieder einmal um sich zu versammeln. Und noch schwieriger ist es, mit ihnen wenigstens für ein paar Tage zusammen zu sein. In der Woche vor dem Fest war Frankfurt an der Oder Treffpunkt der gesamten Familie Rohde aus Wedel. Dort war Leon, mit 19 Jahren der Älteste der drei Brüder (Louis, 18, Luca, 13), für zwei Tage bei den letzten deutschen Meisterschaft 2014 der Bahnfahrer im Großeinsatz. Beim Omnium, dem Mehrkampf mit sechs Disziplinen der Elite, wurde er, obwohl durch eine Erkältung etwas aus dem Tritt gekommen, Fünfter in der Gesamtwertung.

Sein Bruder Louis besucht weiter das Radsport-Internat in Cottbus, wie zuvor vier Jahre lang auch der große Bruder. Er musste übrigens auch an Heiligabend für zwei Stunden mit dem Mountainbike raus und durch den Klövensteen strampeln. Leon gönnte sich an den Festtagen Ruhe, auch, um die Erkrankung richtig auszukurieren.

Jetzt sitzen wir im Haus der Familie am Moorweg in Wedel an einem langen Tisch. Leon Rohde ist 1,86 Meter groß, ein cooler Typ mit kurz geschnittenem schwarzen Haar in modischen Jeans. Selbstsicherheit, Disziplin und Kraft strahlt der Radsportler aus. Sein Blick und seine Gedanken eilen voraus auf den 5. August 2016. Dann werden in Rio de Janeiro die Olympischen Sommerspiele eröffnet. „Nein, Rio ist kein Traum für mich“, sagt Wedels hoffnungsvolles Radsport-Talent. „Für mich ist die Teilnahme in diesem Jahr zu einem realistisches Ziel geworden.“

Leon Rohde, als Radprofi beim LKT (Lausitzer Klär-Technik)-Team Brandenburg unter Vertrag (wie auch der jüngere Bruder) und wird auch von der Deutschen Sporthilfe gefördert. Leon hat sich wahrscheinlich schon einen Stammplatz im deutschen Bahnvierer erobert.

Die Elitefahrer dieses Quartetts, das muss man wohl denjenigen erläutern, die im Radsport nicht so Zuhause sind, war über Jahrzehnte das Paradeteam des Bundes Deutscher Radfahrer. Aus dem einstigen olympischen Goldgaranten aber wurde eine Crew der Versager. Für Olympia in London und Peking war der Vierer nicht einmal qualifiziert. Allzu große Erwartungen hatten die Offiziellen auch noch nicht, als sie mit Sven Meyer einen jungen Trainer für den Neuaufbau verpflichteten. Zu den sieben erfahrenen Profis gehört eben auch der Junge aus Wedel. Er ist sozusagen das „Nesthäkchen“ im Kader.

Die Entscheidung für den Neuling in der Elite-, also der Herrenklasse, war mutig, kam aber nicht überraschend. Schließlich hat Leon Rohde als 18-Jähriger bei den Junioren schon vier nationale Meistertitel auf der Bahn errungen. Dabei darf man nicht vergessen, dass der Sprung von der Nachwuchs- in die Eliteklasse im Radsport eine enorm hohe Hürde darstellt. Mehr als 80 Prozent der Talente können sie nicht überwinden.

Als Leon Rohde vor fünf Jahren die Courage fand und mit 14 von Zuhause weg in das Internat nach Cottbus zog, wohin ihm Bruder Louis ein Jahr später folgte, war er einer von 15 erfolgsgewohnten Nachwuchssportlern aus weiten Teilen der Republik. „Ich bin der einzige, der noch dabei ist“, sagt er jetzt beim Gespräch im Elternhaus in Wedel, wo er seit zwei Jahren wieder gemeldet ist. „In der Mannschaft war ich der Neue. So richtig hatte mich von den anderen wohl keiner auf der Rechnung“, fügt er hinzu und lächelt.

Das hat sich rasant geändert. Er startete bei den Bahn-Europameisterschaften im Urlaubsparadies Guadeloupe, einer zu den französischen Antillen gehörenden Karibik-Insel, und danach auch beim Weltcup in Mexiko. Bei den europäischen Titelkämpfen unter Palmen wurde der deutsche Bahnvierer nur im Finale von den favorisierten Engländern geschlagen. Eine Woche später bei einem Weltcup-Rennen im mexikanischen Guadalajara war Leon Rohde als Jüngster wieder mit bei der Jagd um die 250 Meter lange Bahn, als der Vierer in 3:57,507 Minuten auf der 4000-Meter-Distanz einen neuen deutschen Rekord aufstellte und den alten gleich um 1,5 Sekunden verbesserte.

Anderthalb Sekunden, das sind im Bahnradsport Welten. Was es im harten Trainingsalltag heißt, sich zwei Jahre lang für den Traum von Olympia zu schinden, erahnt ein Außenstehender, wenn Leon von der Arbeit mit dem Bundestrainer erzählt. „Von unseren Rädern werden Trittfrequenz, Kraftaufwand, geleistete Wattzahl und auch Pulsschlag direkt auf den Computer des Trainers gesendet. Ich war im Schnitt Tempo 63 gefahren. Hinterher rief er mich und zeigt auf die Kurve: ‚In dieser Runde hast du 127,7 mal in der Minute getreten, in der nächsten nur 127,3 mal. Das dulde ich nicht. Du darfst nicht nachlassen.“

Leon Rohde war um 0,1 Umdrehungen langsamer geworden. Kein Auge kann das erkennen, die Elektronik aber kann es messen. Aber in einem Sport, in dem eine tausendstel Sekunden über Gold entscheiden kann, muss der Aktive soweit gedrillt werden, dass er alles, aber auch wirklich das Letzte, aus sich herausholen kann. Berauschende Glücksmomente im Wettkampfsport, das ist es, was schon den kleinen Leon derart faszinierte, dass er früh das Elternhaus, die Sportfreunde der RG Hamburg und die Schule in Wedel verließ. Das Internat in Cottbus bedeutete für die Brüder auch erzwungene Selbständigkeit und Verantwortung. „Aber wenn du erst mal bei einem Straßenrennen mit 200 Mann am Start stehst, spürst du das Fieber“, sagt Leon. „Du spürst, dass du gut drauf bist. Wenn du im Schlussspurt freie Fahrt bekommst und als Erster über die Ziellinie schießt, sind das Augenblicke, für die sich all die Schindereien lohnen. Wenn du siegst, so heißt es in unserem Sport, brennen deine Lunge und deine Muskeln, aber es tut nicht so schrecklich weh.“

Die ruhigen Festtage mit der Familie in Wedel gehen für Leon Rohde schon am Sonnabend, 27. Dezember, zu Ende. Dann fliegt er ins Trainingslager nach Mallorca und danach wohl weiter zum nächsten Weltcup nach Kolumbien.

Jetzt haben wir lange geredet, und nicht einmal ist das Wort Doping gefallen. „Das bleibt in unserem wie in jedem anderen Spitzensport ein Thema“, sagt der Radprofi aus Wedel mit dem Ziel „Rio 2016“. „Aber ich bin überzeugt davon: Auch wenn wir nicht dopen, haben wir bei den Weltmeisterschaften im Februar in Paris und auch bei den Olympischen Spielen wieder eine reelle Chance. Das ist doch viele Jahre lang nicht so gewesen.“