Seit mehr als 70 Jahren trainiert Hanna Junge Turnerinnen. Mit fast 88 Jahren ist die Pinneberger Seniorin noch voll aktiv dabei

Pinneberg. Es ist gar nicht so einfach, mit der bekanntesten Turntrainerin des VfL Pinneberg einen Termin zu vereinbaren. „Nein, montags und freitags trainiere ich meine neue Gruppe für die ganz Kleinen“, wehrt Hanna Junge ab. Wie wär’s dann mit Donnerstag? „Da kommen Annika Knutzen und auch noch ein paar von den Neuen“. Vielleicht am vormittags am Donnerstag? „Da sind meine Söhne und Töchter immer zum Frühstück bei mir.“ Was ist mit Sonnabend? „Da bin ich als Kampfrichterin bei den Landesmeisterschaften in Wedel“. Und am Sonntag? „Da fahre ich mit meiner Tochter Susanne und einigen Talenten zum Landesauswahl-Training nach Kiel.“

Es gibt ja noch so viel zu tun für die Turnlehrerin des VfL Pinneberg, die am 1. Januar 88 Jahre alt wird: Hanna Junge, Mutter von drei Söhnen und zwei Töchtern, Großmutter von zwölf Enkeln und seit fast acht Jahrzehnten als Übungsleiterin im Dauereinsatz für Kinder und Jugendliche – ein langes und noch immer sprühend aktives Leben fürs klassische Turnen.

Treffpunkt Halle der Theodor-Heus-Schule. In langer Turnhose und weitem Pullunder steht die kleine Frau mit dem weißen Haar an einer ausgelegten Bahn. Junge Mädchen haben sich vor ihr aufgereiht. „Jetzt geht ihr in die Hocke, macht euch rund wie ein Ball“, hört man die Trainerin rufen. „Dann rückwärts die Hände auf den Boden und mit Schwung den Überschlag. Das war schon besser“, muntert sie Emilia auf. Das Lob bringt ein Leuchten ins Gesicht der Fünfjährigen. Die Mutter, die in der Halle wartet, sieht das und lächelt.

„Jedes Kind ist stolz, wenn ihm etwas Schwieriges gelingt“, sagt Hanna Junge. „Jeder will Erfolg haben, erst einmal ganz für sich. Und wenn sie üben, üben, und plötzlich gelingt es, sprühen sie vor Stolz und Freude. Etwas zu können ist die Triebfeder jedes Menschen. Daran hat sich in den mehr als 80 Jahren, die ich inzwischen beim Turnen bin, nichts geändert.“

Die beiden Übungsstunden sind vorüber. Die Mädchen werden von Müttern oder Vätern abgeholt. Hanna Junge hat sich zu dem Gespräch in eine der kahlen Umkleidekabinen zurückgezogen. Da sitzt sie sozusagen in ihrer Arbeitskluft. Die alte Dame führt zurück in ihre Kindheit nach Danzig. Und beim Erzählen wird deutlich, was für ein sportlicher Wirbelwind sie als Mädchen schon war. „Mit fünf habe ich mit dem Turnen begonnen, aber ich bin auch geschwommen und im Winter Ski gelaufen“, zählt sie auf. „Und in der Leichtathletik war ich auch ganz fix dabei.“ Sie redet schnell, präzise und voller Lebensfreude. „Mit 14 Jahren bin ich die 100 Meter in 13 Sekunden gelaufen.“ Es ist nicht nur die Stimme, es sind vor allem die Augen, die so erstaunlich viel Jugendlichkeit ausstrahlen. Die 87 Jahre alte Frau erzählt von der Flucht über die Ostsee im Januar 1945. Die Mutter mit den drei Töchtern befindet sich auf einem der letzten Schiffe, der Vater als Marinesoldat auf einem anderen. Der Neuanfang in Itzehoe, die ersten Jahre mit fünf Personen in einem Zimmer. Und sie beschreibt, wie sie 1946 als Schülerin etwas Geld mit Sauerkraut stampfen dazu verdiente.

Schon beim Blick zurück auf sieben Jahrzehnte zurück wird schnell klar: Das Temperamentbündel aus Danzig hat sich als Flüchtling nicht lange aufhalten lassen. Es hat das Leben mutig bei den Hörnern gepackt. Günter, der junge Turner, der sie beim ersten Sommerfest des Turnvereins in Itzehoe zum Tanz aufforderte, hat sie nicht mehr losgelassen. Die Liebe fürs Leben begann 1946. Ein Jahr später, gleich nach dem Abitur, gehörte Hanna zu den 15 Auserwählten unter 200 Bewerbern, die zum Studium an der Sporthochschule in Köln zugelassen wurden.

Kinder von Hanna und Günter Junge wachsen in der Turnhalle auf

Wieder ein Jahr später wurde aus Hanna Wolandt Frau Junge. Und ihr Examen als Sportlehrerin? „Da kam etwas wichtigeres dazwischen“, sagt sie. Und da ist wieder das verschmitzte Lächeln in ihren Augen. „Rainer, unser erster, kam 1949 zur Welt“. Detlef, Martin, Heidrun und Susanne folgten. Dafür, dass alle Kinder sportlich waren und auch heute noch sind, hat Hanna Junge eine schlichte Erklärung. „Praktisch sind sie doch mit mir und mit meinem Mann in Turnhallen und auf Sportplätzen groß geworden.“

Rainer Junge, der Sport in Frankfurt studierte, ist seit Jahrzehnten der „Turnpapst“ beim Wedeler TSV. Susanne, die jüngste aus der Turner-Dynastie, hilft ihm dabei. Bruder Detlef leitet seit Jahren die Turnsparte beim EMTV, Schwester Heidrun hat sich dem Ballett verschrieben. Nur Martin, als Turner der erfolgreichste der Familie (Sechster bei einer deutschen Meisterschaft), hat wegen einer Erkrankung den Sport aufgeben müssen.

Nachdem die Familie 1966 nach Pinneberg gezogen war, wurde Hanna Junge 1970 als Übungsleiterin und viele Jahre auch als Kreissportwartin beim und für den VfL Pinneberg aktiv. Und was hat sich in den vielen Jahren am stärksten beim Turnen verändert? „Mit Spaß und Ehrgeiz sind die Kinder heute noch genauso dabei wie ich vor mehr als 80 Jahren“, sagt die Lehrmeisterin von Generationen. „Aber Beweglichkeit und die Kraft der Kinder sind nicht mehr so ausgeprägt“. Für Mütter und Väter sei Sport weiter wichtig. „Eltern wollen noch immer, dass ihre Kinder die Besten sind.“ Aber ein Geburtstag oder die Wochenend-Reise haben heute meist Vorrang vor dem Sport.“

Was aber treibt sie mit fast 88 Jahren noch wöchentlich bis zu viermal in die Halle? „Die Freude der Kinder, wenn ihnen eine schwierige Übung gelingt, sie ihre Ängste überwinden und Schwierigkeiten durchzustehen – das können wir ihnen doch mit ins Leben geben.“

Und das eigene, lange Leben für die Jugend und den Sport? Kommt nicht allmählich die Zeit, an den Abschied zu denken? „Doch, ja“, sagt Hanna Junge und schweigt für eine Weile. Dann hebt sie den Kopf, und in ihren Augen ist wieder das Funkeln und um ihren Mund das Lächeln. „Aber da ist doch noch so viel zu tun. Angst habe ich nur davor, das ich all das nicht mehr schaffe.“