Ein Leben für den Boxsport – Thomas Müller ist seit 40 Jahren für den Wedeler TSV im Einsatz, als Aktiver und seit 20 Jahren als Cheftrainer

Wedel. Wie bei so vielen Menschen war es auch bei dem kleinen Thomas eine Nebensächlichkeit, die seinen Weg im Leben nachhaltig beeinflusste. Neun Jahre alt war er seinerzeit, ein sehr schmächtiges, schüchternes Kerlchen im Hochhäuser-Kiez am Osdorfer Born in Hamburg. Andreas hieß sein Freund damals. Und dessen Mutter verliebte sich in einen Boxtrainer, den vom Wedeler Turn- und Sportverein (TSV). Das war Karl Blumenberg, und der begeisterte die Knirpse für den sportlichen Kampf mit den Fäusten.

Vier Jahrzehnte später sitzt Thomas Müller am kleinen Tisch im Wedeler Box-Camp, dem abgetrennten Raum innerhalb der modernen Vereinshalle des TSV. An Ketten baumeln von der Decke dicke schwarze Sandsäcke. Auf die haben noch vor einer halben Stunde Mädchen und Jungen, Väter und Mütter voller Leidenschaft eingedroschen. „Familienangebot“, nennt der Cheftrainer das. Für Thomas Müller ist es auch eine Selbstverständlichkeit, dass er während der Ferienzeit für die Jugendlichen, die nicht in Urlaub fahren, Training anbietet.

Das erste Rendezvouz brach er ab, um seine Boxer trainieren zu können

Neben ihm, zwischen all den Hanteln, Pratzen und Sandsäcken, sitzt seine Lebensgefährtin Frauke Zander. Sie fährt sich mit den Fingern durch das Haar, das noch nass vom Duschen ist. Auch die Mutter von zwei Fußball-Jungen hat Spaß daran gefunden, von Thomas Müller beim Boxtraining motiviert und angetrieben zu werden. Lachend erzählt sie von der ersten Verabredung vor vier Jahren. „Wir saßen zusammen im Schulauer Fährhaus. Kurz nach fünf blickte er auf die Uhr und sagte: ‚Tut mir leid, aber ich muss zum Training. Meine Boxer warten’.“

Thomas Müller ist inzwischen 49Jahre alt. Als Gebäudemanager ist er mit sieben Mitarbeitern für den modernen Bürokomplex von Unilever in der Hafencity verantwortlich. Aber seit er als neun Jahre alter Knirps das erste Mal die kleinen Fäuste in Boxhandschuhe zwängte, hat es für ihn kaum eine Woche ohne seinen Sport gegeben. Mehr als zehn Jahre lang war er Kämpfer, seit 1985 ist er Trainer. „Heute mit Thomas durch die Wedeler Bahnhofstraße zu gehen erfordert Geduld“, sagt Frauke Zander mit dem Unterton von Stolz. „Ständig eilen Jungen und Männer auf ihn zu, umarmen ihn, erzählen von ihren Kämpfen.“

Seit 40 Jahren ist Thomas Müller für den Wedeler TSV im Einsatz, fast 20 Jahre davon als Cheftrainer – Thomas Müller und sein Leben für den Boxsport. „Für sich alleine verantwortlich zu sein“, sagt er nach längerem Nachdenken und wischt sich noch einmal den Schweiß aus dem Gesicht, „das hat mich von Beginn an motiviert und begeistert. Du allein hast den Erfolg in den Fäusten. Und wenn du faul bist im Training, kann das verdammt wehtun im Ring. Natürlich, nach einer Niederlage ist oft der Ringrichter schuld. Aber im Grunde weiß jeder Boxer, wenn er Prügel kassiert, trägt er ganz allein die Verantwortung dafür.“

Ein Draufgänger war Thomas Müller übrigens nie. Als Sportler lernte er früh, nichts zu überstürzen. Den Gegner beobachten, seinen Schlägen ausweichen, auf die eigene Chance warten, erst dann zuschlagen und treffen: „Das habe ich als Boxer gelernt, und das hat mir im Leben geholfen.“

Wieder herrscht Stille beim Blick zurück auf 40 Jahre Einsatz, mit gepolsterten Fäusten im Ring. Der ist sechs mal sechs Meter groß. Ein Kampf dauert dreimal zwei Minuten. „Man ist ganz allein und muss sich behaupten.“

Nachdenklich fügt der Wedeler hinzu: „Im Grunde wiederholt sich diese Situation häufig im Leben, zum Beispiel bei einem Vorstellungsgespräch oder wenn man mit seinem Chef über eine Gehaltserhöhung verhandelt. Angst blockiert einen, aber Respekt vor dem Gegner und Selbstvertrauen bringen einen weiter, im Ring und im Leben.“

Olympiasieger brach Thomas Müller bei einem Bundesligakampf die Nase

Er selbst, das wird er nie vergessen, hat bei seinem ersten Kampf den Ring als Geschlagener verlassen. Sechsmal war der ehemalige Bundesliga-Boxer Hamburger Vize, aber nie Meister. Dreimal hat Müller im Finale gegen Fred Merabi vom BC Heros verloren. Der Einzige, der ihm einmal die Nase gebrochen hat, war Olympiasieger Oktay Urkal, bei einem Bundesligakampf in Berlin. „Die Nase ist seitdem schöner“, sagt der Coach und schmunzelt.

Es sind auch nicht die Meistertitel seiner Schützlinge, auf die es Müller ankommt. Stattdessen gehe es um die Entwicklung der jungen Sportler: „Wenn ich miterlebe, wie so ein Junge nach Niederlagen weiter an sich arbeitet, wie sein Selbstwertgefühl mit jedem Sieg wächst, macht mich das stolz.“ Müller erzählt, wie vor Jahren ein scheuer, verunsicherter 15-Jähriger vor der Sporthalle zu ihm kam und sich mit einem einzigen Wort verständlich machen konnte: „Boxen?“. Mehr Deutsch sprach Igli Kapllani damals nicht. Der Junge aus Albanien hatte sich bei einem Länderkampf in Italien auf- und davongemacht, lebte völlig auf sich alleingestellt in einer Unterkunft in Holm.

Thomas Müller und Herbert Offermanns, Abteilungsleiter der Wedeler Boxer, nahmen sich des jungen Flüchtlings an. „Igli ist heute Bauleiter einer Tischlerei, verheiratet, Vater und seit Jahren Boxtrainer beim SV Lurup“, sagt Thomas Müller, sein Freund fürs Leben. Junge Sportler wissen ohnehin, zu Thomas können sie immer mit Problemen kommen, und sei es, weil sie in der Schule bei der Bruchrechnung K.o. gehen. Bei Bedarf macht er auch Schularbeiten mit seinen Schützlingen, zu denen mittlerweile nicht nur Jungen, sondern auch Mädchen zählen.