Annika Carstensen ist 30 und damit doppelt so alt wie die meisten Rivalinnen an den Geräten. Eine Ausnahmesportlerin

Wedel. Meist hat die junge Frau schon einen anstrengenden Arbeitstag und eine lange Anreise hinter sich. Oft verlässt Annika Carstensen gegen 6.30 Uhr ihr Zuhause in Wedel, steht um acht in Finkenwerder in der Turnhalle und spielt mit den Schülern des Gymnasiums im Sportunterricht Fußball oder Basketball. Gegen 14 Uhr nimmt sie wieder die Fähre nach Hamburg. Eine Stunde später kann sie dann endlich die Türen des Hamburger Kunstturn-Zentrums in der Angerstraße hinter sich schließen.

Dann ist die 30-Jährige angekommen in dieser Oase des Hochleistungssports. Übungen auf dem Schwebebalken und dem Stufenbarren, die Schnitzelgrube und die Matte beim Bodenturnen, das alles ist für Annika Carstensen längst so etwas wie ihr zweites Zuhause geworden.

"Das Training, die langwierige Detailarbeit an den Geräten, das Miteinander in unserer kleinen Gemeinschaft, ist fester Bestandteil meines Lebens", sagt die angehende Lehrerin für Sport und Biologie. "Darauf freue ich mich jedes Mal aufs Neue. Die Turnhalle ist wirklich ein Stück zu Hause für mich."

Annika war acht oder neun, da hat sie gebannt vor dem Fernseher gehockt, wenn Kunstturnen übertragen wurde. Von ihrer Begeisterung wussten nicht nur die Eltern und die drei Geschwister, sie hatte sich auch in der näheren Umgebung herumgesprochen. "Eine Nachbarin kannte Rainer Junge", erzählt Annika Carstensen von ihren Anfängen beim Wedeler TSV. "Ich bin dann zu ihm zum ersten Training. Das war 1991." Sie ist bis heute geblieben.

Mehr als 20 Jahre Aus- und Weiterbildung in der wohl schwierigsten aller Sportarten, mehr als zwei Jahrzehnte Hochleistungssport. In der fein abgestuften und kompliziert aufgebauten Leistungsskala dieser Kunst turnt Annika Carstensen seit Jahren die "Kür nach Olympischen Regeln". Das ist die höchste Stufe, die eine Gerätturnerin erreichen kann. "Aber auch hier gibt es bei den einzelnen Übungen Schwierigkeitsgrade, die ich nicht schaffe", sagt Annika.

Und doch hat sich die ehrgeizige Musterschülerin von Rainer Junge längst zu einer Ausnahmesportlerin im deutschen Turnsport aufgeschwungen. Es gibt in diesem Kinder- und Mädchensport wohl keine Handvoll Leistungsturnerinnen, die in ihrem Alter noch solch atemberaubende Überschläge und Salti zeigen können. Annika Carstensen war 28 Jahre und damit fast doppelt so alt wie die meisten ihrer Konkurrentinnen, als sie vor drei Jahren mit der Riege des Wedeler TSV in die erste Bundesliga aufstieg. Sie wird in der kommenden Regionalliga-Saison weiterhin eine Stütze der Mannschaft sein, die Rainer Junge, seit 1980 Wedels Kunstturn-Guru, neu zusammenstellt. Auch in den sechs Jahren, in denen Annika Carstensen in Kiel studierte und deutsche Hochschulmeisterin am Balken und auch mit der Mannschaft wurde, blieb sie ihrem großen Mentor und dem Wedeler TSV treu. "Ich habe Rainer Junge sehr viel zu verdanken", sagt die 30-Jährige heute. "Und zwar weit über den Sport und das Turnen hinaus."

Auch der erfahrene Trainer hat vor 20 Jahren von der kleinen Annika Ungewohntes lernen müssen. "Mit ihr musste ich zwar auch Geduld haben, aber sozusagen in entgegengesetzter Richtung", erzählt der Turnlehrer. "Wenn ich sie nach einer Übung lobte, bekam ich garantiert zu hören: 'Nein, das war noch nicht gut. Das und das muss ich besser machen'. Sie ist nicht nur unglaublich ehrgeizig, sie ist eine noch größere Perfektionistin."

Dieses "das willst du unbedingt schaffen" ist es denn auch, das schon das eher ängstliche und zurückhaltende kleine Mädchen antrieb und über zwei Jahrzehnte bei der Stange hielt. So gibt es etwa am Stufenbarren eine schwierige Übung: vom Handstand schwungvoll die Riesenfelge, oben wieder in den Handstand und dort eine ganze Drehung des Körpers, also der Wechsel mit beiden Händen. Vor gut zwei Jahren in der Bundesliga wagte sich Annika Carstensen an diese Übung heran. Jetzt erst beherrscht sie sie. "Wenn nach all den Mühen und Versuchen die Übung erstmals gelingt, schwebst du auf Wolke sieben", sagt Wedels beste Turnerin. "Dann fühlt man sich frei, stark und glücklich. Dann weißt du, warum du über all die Jahre nicht von diesem Sport loskommst."

Als die kleine Annika vor 21 Jahren in Wedel begann, sagte ihr Mentor Rainer Junge: "Dreimal in der Woche musst du trainieren, fünfmal kannst du, wenn du willst." Sie wollte und will so viel, wenn es sich einrichten lässt, noch immer. "Bei meinem Sporthabe ich gelernt, dass man dranbleiben muss, auch bei Schwierigkeiten. Du darfst nicht aufgeben. Und das werde ich mit ins Leben nehmen", sagt Annika Carstensen.