Einzelfälle wie zuletzt im Kreis Pinneberg geben Grund zu dieser Annahme. Doch die Statistik des Hamburger Verbandes widerlegt es.

Pinneberg. Jeder Faustschlag, jeder brutale Fußtritt auf dem Fußballplatz gerät heute in den Fokus der Öffentlichkeit. Und sorgt für emotionale Diskussion. Aber auf die Frage, ob es tatsächlich immer mehr Gewalt im Hamburger Fußball-Verband gibt, sagt der für die Öffentlichkeitsarbeit verantwortliche Carsten Byernetzki klar und deutlich: "Nein. Die Anzahl der Vorfälle geht zurück. Aber was deutlich zunimmt, das ist die Respektlosigkeit und Missachtung des Gegners, vor allem aber auch der Schiedsrichter. Die verbalen Attacken, sowohl von Betreuern als auch von Trainern und besonders im Jugendbereich auch von Eltern, nimmt weiter zu. Die Schiedsrichter werden immer mehr zu Freiwild. Das allerdings ist eine Entwicklung in unserer Gesellschaft, die beispielsweise auch die Polizei zu spüren bekommt."

Wie ist es aber mit Faustschlägen und Fußtritten, der harten körperlichen Gewalt auf- und am Rande der Fußballplätze? Carsten Byernetzki: "Die ist seit einigen Jahren rückläufig. Von den rund 60 000 Spielen, die in jeder Saison in Hamburg angepfiffen werden, werden etwas 30 vorzeitig wegen Angriffe auf den Schiedsrichter oder Prügeleien auf dem Platz abgebrochen. Das sind 0,04 oder 0,05 Prozent. Vor einigen Jahren noch gab es 40 bis 50 Spielabbrüche in Hamburg." Spielabbrüche im Kreis Pinneberg wie letzten Sonntag die Kreisliga-Partie von Blau-Weiß 96 II gegen Inter Eidelstedt sind bislang die Ausnahme.

Diese Fälle wie auch die meisten Rotsünden (als leichtere Fälle zumeist mit einer automatischen Sperre von zehn Tagen geahndet) landen bei den Erwachsenen vor dem Sportgericht des Verbandes. Beim Nachwuchs regelt das der Jugendrechtsausschuss. Das Sportgericht kommt mittwochs um 17.30 Uhr in der Zentrale des Verbandes in Jenfeld zusammen und legt bei zehn bis 15 Fußballsündern das Strafmaß fest.

"Die Zahl der mit einer Roten Karten bestraften Vorfälle ist im Grunde seit Jahren gleich geblieben", sagt Christian Koops, seit fünf Jahren Vorsitzender und davor schon sechs Jahre Beisitzer des Sportgerichtes. "Was zum Teil zunimmt, ist die Intensität einzelner Ausschreitungen. Man muss bei dieser Diskussion über zunehmende Gewalt auch im Amateurfußball auch eines berücksichtigen: Wenn vor zehn Jahren bei einem Altherrenspiel zwei mit den Fäusten aufeinander losgingen, erfuhr außerhalb des Platzes kaum einer davon. Heute wird fast jeder Vorfall bei Facebook, in Internet-Foren oder sonstwo gepostet, und der gesamte Hamburger Fußball redet darüber. Nicht eigentlich die Gewalt auf den Plätzen, aber das Wissen um jeden Vorfall hat zugenommen."

Verfallen und in Vergessenheit geraten sind in unserer Gesellschaft und damit auch im Kampfsport Fußball Werte wie Rücksichtnahme und Fairness. "Wenn ich dieses Wort selbst bei Trainerlehrgängen in den Mund nehme", sagt Willy Wilkens, "schauen mich viele an, als käme ich von einem anderen Stern. Der Sport setzt kaum noch Grenzen. Dass mein Kampfeinsatz dort enden muss, wo für meinen Gegner die Verletzungsgefahr beginnt, solche Werte werden kaum noch vermittelt."

Der Mann weiß besser als jeder andere, wovon er redet. Denn der frühere Polizeibeamte hat mit den schlimmsten Folgen dieses Werteverfalls zu tun. Als Anti-Gewalt- und Deeskalations-Trainer ist Willy Wilkens inzwischen nicht nur in Jugendstrafanstalten und Gefängnissen wie Santa Fu im Einsatz. Auch im Hamburger Fußball finden er und sein Team ihre Arbeit. Bei der Trainerausbildung lehren sie richtiges Verhalten bei "Gewalt auf dem Platz", bei der Trainerfortbildung heißt ihr Arbeitstitel "deeskalierendes Verhalten am Spielfeldrand."

Nicht in jedem Fall fruchten diese Bemühungen. "Ich könnte nicht wenige Kollegen, Betreuer und sonstige Offizielle aufzählen, die ein Spiel eher anheizen als zu beruhigen", sagt Andreas Behnemann, der in der Bezirksliga den SSV Rantzau trainiert. Allein für Vergehen wie verbale Entgleisungen an der Seitenlinie vom 21. September bis zum 13. Oktober sprach das Sportgericht vergangene Woche 13 Verweise aus. Das zeigt: Trainer und Betreuer sind längst nicht immer gute Vorbilder ihrer Spieler. Vor allem nicht im Jugendbereich. Da müssen viele Klubs nach dem Wegfall steuerlicher Vergünstigungen fast jeden nehmen, den sie kriegen können.

Im Hamburger Jugendfußball organisiert das Anti-Gewalt-Team auch sogenannte Coolnesstage für Spieler und Mannschaften zwischen dem 14. und 18. Lebensjahr. Diese vorbildlichen Maßnahmen werden auch im kommenden Jahr wieder von einer Stiftung mit 10 000 Euro unterstützt.

"Gewaltausbrüche auf dem Platz haben immer eine Vorgeschichte", erklärt Willy Wilkens. "Sie bauen sich langsam auf, entwickeln sich. Was uns bei unserer Arbeit am meisten erschreckt ist die Erfahrung, wie wenig Umfeld, Mitspieler, Trainer und auch Zuschauer das erkennen oder auch erkennen wollen. Wenn die Gewalt erst zum Ausbruch kommt, ist es sehr schwierig, sie einzudämmen. In Einzelübungen erleben wir immer wieder, wenn ein Junge provoziert oder hart gefoult wird, ist es für ihn fast unmöglich, cool zu reagieren, die Dynamik aus dem Zusammenprall zu nehmen, der oft reine Machtdemonstration ist."

Mittwoch wurde am Sportgericht wieder eine Tätlichkeit gegen einen Schiedsrichter verhandelt. "Der Spieler aber hatte nur versucht, die Hand des Schiedsrichters festzuhalten, damit der nicht die Rote Karte zücken konnte", so der Gerichtsvorsitzende Christian Koops. Dieser Kicker "darf" nun in dem halben Jahr, für das er gesperrt wurde, über sein Verhalten nachdenken.

Blanker Hass wie vor 13 Monaten, als er dem Zweitligatreffen des FC St. Pauli bei Hansa Rostock als Zuschauer beiwohnte und um das Leben von Sohn Yannik, 15, fürchtete, schlug Michael Fischer auf Hamburger Amateurplätzen noch nicht entgegen. Eine Verrohung der Umgangsformen stellt er trotzdem fest. "Es fängt schon damit an, dass einen der gegnerische Trainer nicht mehr begrüßt und auch nicht zum Sieg gratuliert", sagt Andreas Behnemann bei. "Früher haben wir uns im Spiel die Knochen poliert. Hinterher beim Bier war alles wieder gut." Heute gehört die Beschimpfung fast zum Umgangston. Schuld habe laut Fischer das mediale Zeitalter: "Die Leute bekommen im Fernsehen und Internet den letzten Schrott vorgesetzt, unentwegt. Dabei merken sie gar nicht, wie sie allmählich selbst abstumpfen."