Vor 17 Jahren erlitt Horst Schultz einen Schlaganfall. Jetzt lief der 67-Jährige zum siebten Mal in Hamburg in Marathon und schaffte die Strecke dank intensiven Trainings - auch wenn es hart war.

Kölln-Reisiek. Der Mann schämte sich seiner Tränen nicht. Als Horst Schultz nach 42,195 Kilometern die letzten Meter an der Hamburger Glacischaussee passierte, war es für ihn ein selten erlebter emotionaler Moment. Der 67-Jährige hat zum siebten Mal hintereinander am Hamburg-Marathon teilgenommen. Es sollte sein härtester werden, qualvolle fünf Stunden, aber am Ende lösten sie Glückshormone in dem rüstigen Leichtathletik-Rentner aus. Er sagt: "Wenn man das Ziel nah vor Augen hat, sind sofort alle Schmerzen verflogen."

Am Tag danach fühlte sich Horst Schultz in seinem Haus in Kölln-Reisiek zwar "ziemlich fertig", doch während andere Gleichgesinnte den Tag vielleicht auf der Couch verbringen, ließ sich der rüstige "Marathon-Mann" von seiner Frau Angela (sie ist ebenfalls seit Jahren eine begeisterte Läuferin) alsbald wieder aufpäppeln. Er schmiedet sogar schon wieder neue Pläne. "In diesem Jahr werde ich noch einige Halbmarathons und Straßenläufe absolvieren. Es ist einfach wie eine Sucht, die Laufschuhe zu schnüren und loszurennen - egal, ob ich eines Tages blaue Zehen bekomme."

Die drohten Horst Schultz bei der 26. Auflage der Veranstaltung schon relativ frühzeitig. "Ich glaube, ich bin das Rennen zu schnell angegangen, obwohl ich es gar nicht beabsichtigt hatte. Der Körper meinte wohl, unbedingt das Beste geben zu wollen." Nach zehn Kilometern war Schultz acht Minuten zu schnell, das konnte eigentlich nicht gut gehen. Später klappte die Koordination besser, doch die Kräfte ließen bei den warmen Temperaturen zwangsläufig nach. Die Witterungsbedingungen, die schwüle Luft zur Mittagszeit, waren auch einer der Gründe dafür, dass nur 12 281 statt der gemeldeten 16 466 Läufer auf die Strecke gingen. Diese Tatsache bereitet dem Veranstalter mehr und mehr Sorgen. Wege aus der Krise werden beschritten: Im nächsten Jahr soll das Programm der Veranstaltung, die rund 2,5 Millionen Euro kostet, eine Reform erfahren, um auch Topathleten wieder in die Hansestadt zu locken.

Horst Schultz sollte ein anderes Problem bekommen: Auf den letzten fünf Kilometern ging für ihn nichts mehr, also ging er zu Fuß. "Eigentlich wollte ich auf dem letzten Streckenabschnitt sogar aufgeben, doch das hätte ich mir später niemals verziehen."

Der Dauerläufer, der mit seiner Frau 2007 von Pinneberg nach Kölln-Reisiek gezogen war, hatte das Rennen bis ins Detail geplant. An fünf Treffpunkten verabredete er sich mit seiner Frau, und das klappte bestens. Angela Schultz und Nichte Heidi fuhren jeweils mit der U-Bahn hinterher, um den "Leidenden" anzufeuern.

Treffpunkt eins: Elf Kilometer nach dem Start auf der Reeperbahn trifft man sich bei bester Stimmung am U-Bahnhof Baumwall. "Mach locker weiter, cool bleiben", rief Angela Schultz.

Musik in Eppendorf putscht den den Geplagten kaum mehr auf

Treffpunkt zwei: An der U-Bahn-Station Saarlandstraße durchläuft Horst Schultz nach 20 Kilometern den Stadtpark. Der Protagonist ist weiter gut drauf, lässt seine Gedanken ein bisschen schweifen, zweifelt nicht an seiner guten Konstitution.

Treffpunkt drei: S-Bahn-Station Hamburg-Ohlsdorf. Schultz weiß aus Erfahrung: Nach knapp der Hälfte der Strecke wirft so mancher der Teilnehmer schon mal das Handtuch. Er will es nicht dazu kommen lassen, obwohl ihm seine Frau am Straßenrand rät: "Horst, gib' auf. Du siehst nicht gut aus." Vergeblicher Einwand der besseren Hälfte: "Ich werde nicht auf dem Friedhof landen." Sprachs und machte sich am Maienweg in Fuhlsbüttel auf den Rückweg Richtung City.

Treffpunkt vier: Horst Schultz erreicht elf Kilometer vor dem Ziel Eppendorf. An der Kellinghusenstraße jubelt ihm die Menschenmenge zu, Musik begleitet ihn, doch die Erschöpfung weicht trotz der fetzigen Rhythmen nicht.

Treffpunkt fünf: Die Glacischaussee ist nah, Horst Schultz spürt es förmlich, denn allmählich muss Schluss sein. Langsamen Schrittes überquert er schließlich die Linie und reckt langsam die Arme hoch. Es ist geschafft. Angela Schultz strahlt ihn aus der Menschenmenge heraus an.

Der siebte Hamburg-Marathon war - zumindest was die Zeit angeht - der schlechteste, wenn man das überhaupt so sagen darf. 2005 war er nach 5:01 Stunden beendet, 2006 nach 4:52, 2007 nach 4:37 (Rekordzeit), 2008 benötigte er 4:45 Stunden, 2009 brauchte Schultz 5:04 und 2010 waren es 5:03 Stunden. Die Zeit am Sonntag: 5:31 Stunden, gleichbedeutend mit Platz 108 in seiner Altersklasse M 65. Was ihm letztlich aber völlig egal ist: "Die Hauptsache ist, dass ich es überhaupt geschafft habe."

Psychologischer Rat half ihm, Angstzustände zu überwinden

Dass der Kölln-Reisieker überhaupt regelmäßig an extremen Rennen dieser Art teilnimmt, grenzt schon an ein kleines Wunder. Vor 17 Jahren erlitt er einen Schlaganfall, die rechte Gehirnseite ist nach wie vor gelähmt, doch er kann dank medikamentöser Unterstützung relativ normal leben. "Bis ich 58 war, hatte ich jedoch seelische Probleme", erklärt Schultz. "Ich war regelmäßig beim Psychologen, weil mich auch Angstzustände plagten. Dann ging es mit der Zeit allmählich wieder aufwärts." Vor allem aber begann er das Wichtigste in seinem Leben zu machen: Er kümmerte sich um seine Gesundheit, nahm 24 Kilogramm ab, hörte auf mit Rauchen und trank kaum noch Alkohol - und trieb fortan vor allem Sport.

"Zuerst tobte ich auf dem Laufband aus, manchmal hörte ist erst nach drei Stunden wieder auf, was auch sein langjähriger Fitnesstrainer Frank Wittig aus Pinneberg in Erstaunen versetzte: "Das war schon immer ein ganz zäher Bursche."

Durch den Sport viele interessante neue Menschen kennengelernt

Doch Horst Schultz begnügt sich seinerzeit nicht mit dem Leistungsstand. Er steigert das Programm kontinuierlich, nimmt an Läufen über zehn und 20 Kilometer teil, trainiert zudem fast täglich. Er geht in den Kraftraum, macht viermal das Sportabzeichen und legt zudem die Prüfung ab, um selbst Sportabzeichen abzunehmen. "Durch den Sport habe ich viele interessante Menschen kennengelernt. Auch das ist eine wichtige Erfahrung für mich geworden."

Am Donnerstag geht es nun erst einmal für zwei Wochen in den Urlaub. Nichts ist's mit Laufen - in den Bergen Südtirols wird höchstens gewandert und ansonsten die Ruhe genossen. "Wenn man so ganz allmählich auf die 70 zugeht, sollte man sich Pausen gönnen, vor allem jemand, der jahrelang auf Hochtouren tickte und fast wie besessen gelaufen ist." Für den Unentwegten hat sich der Sport total positiv ausgewirkt, denn sein Hausarzt sagt mittlerweile: "Sie sind durchweg gesund und damit ein ziemlich langweiliger Patient." Das ist Horst Schultz nur Recht. Er sagt von sich: "Ich fühlte mich in meinem ganzen Leben noch nie so gut in Form wie jetzt. Und darauf bin ich stolz."