Quickborn/Itzehoe. Sie saßen wenige Meter auseinander – und doch trennen sie Welten: Josef Salomonovic (83) hat im KZ Stutthof seinen Vater Erich verloren, der ermordet wurde – Irmgard F. (96) war im Büro des Lagerkommandanten tätig. Dienstag trafen sich der Überlebende und die Sekretärin des Lager-Bosses vor dem Landgericht Itzehoe – er als Zeuge, sie als Angeklagte.
Der 83-jährige Salomonovic, der in Wien lebt, war der erste Überlebende, der in dem Prozess gegen die heute in Quickborn wohnhafte Irmgard F. aussagte. Ihr wird Beihilfe zum Mord in mehr als 11.000 Fällen vorgeworfen. Und es war für den sehr vital wirkenden Mann mit den grauen Haaren die erste Aussage vor einem deutschen Gericht überhaupt. In den zurückliegenden Verfahren, etwa gegen den SS-Wachmann Bruno D. in Hamburg, hatte er sich nicht beteiligt. „Mir wäre lieber, mein Vater, meine Mutter oder mein Bruder könnten hier Zeugnis ablegen“, so der 83-Jährige. Weil alle nicht mehr am Leben sind, habe er diese Aufgabe stellvertretend für sie übernommen. „Ich sehe das für mich als moralische Pflicht.“
Stutthof-Prozess: KZ-Überlebender schildert seine Kindheit
Mit eindringlichen Worten schilderte der sehr zurückhaltend wirkende Mann die Erlebnisse seiner Kindheit – die Geschichte einer jüdischen Familie im Würgegriff der Nazis. Geboren wird Josef Salomonovic am 1. Juli 1938 in Ostrau in Mähren. Nach der Besetzung durch die Nazi-Truppen wird die vierköpfige Familie am 3. November 1941 von Prag aus mit einem Transport in das Ghetto Lodsch in Polen gebracht.
„Ich hatte nur einen gelb-grünen Rucksack dabei, in dem befand sich ein Nachttopf und viereckiges Klopapier. Mein Vater war ein kluger Mann, er hatte Geldscheine zwischen den Blättern Klopapier versteckt.“ In dem Ghetto seien sie gemeinsam mit zwei anderen Familien in einer kleinen Wohnung untergebracht gewesen, beide Eltern und der ältere Bruder hätten für die Rüstungsproduktion der Nazis arbeiten müssen.
"Es war das letzte Mal, dass ich meinen Vater lebend gesehen habe"
„Ich erzähle das nicht gern, aber wir kleinen Kinder waren die Parasiten, weil wir nicht arbeiten konnten.“ Der 83-Jährige berichtete, wie eines Tages diese Kinder von ihren Müttern getrennt („Die haben gebrüllt“) und weggebracht wurden – ihr Todesurteil. Josef Salomonovic überlebte, weil seine Mutter ihn rechtzeitig auf dem Dachboden versteckte.
Als die Alliierten im Herbst 1944 näher rückten, hätten die Deutschen beschlossen, die Fabriken in Lodsch zu demontieren und die Maschinen nach Dresden zu schaffen. „Wir sind dann in Viehwaggons eingestiegen und sind nach Auschwitz gekommen. Es war das letzte Mal, dass ich meinen Vater lebend gesehen habe.“
Salomonovic kamm 1944 als Sechsjähriger ins KZ Stuttuhof
Nach sechs Tagen in Auschwitz seien sie am 3. September 1944 mit einem weiteren Transport in Stutthof eingetroffen. „Ich war damals sechs Jahre alt“, so der Zeuge. Am schlimmsten sei dort der Hunger gewesen – und die Kälte. Er schildert stundenlange Zählappelle ab 5 Uhr morgens („Wenn jemand umfiel oder fehlte, wurde noch einmal gezählt“), bei denen er zwischen den Beinen seiner Mutter etwas Wärme suchte. Und er berichtete, wie er zwischen den Baracken auf zwei norwegische Kriegsgefangene traf, die ihm eine Karotte und eine Dose Sardinen schenkten.
Seine Mutter habe die Karotte mit dem Löffel, den sie noch aus Prag mitgenommen hatten, abgeschält und mit ihm ein Loch in die Dose geschlagen. Er habe erst die Karotte gegessen, dann das Öl aus der Sardinendose getrunken und schließlich den Fisch probiert. „Das war das Beste, was ich jemals gegessen habe.“
Salomonovic' Vater wird in Stutthof ermordet
Während er mit seiner Mutter im Frauenlager gewesen sei, hätten sich Bruder und Vater im Männerlager befunden. Am 17. September 1944 sei ein deutscher Offizier mit einem weißen Mantel vor die angetretenen Männer getreten und habe versprochen, dass jeder von ihnen, der sich schlecht fühle, ein Aspirin bekäme würde. Sein Vater habe das trotz der Warnungen der Mitgefangenen geglaubt („Er sagte meinem Bruder, ein deutscher Offizier lügt nicht“), sei mitgegangen und durch eine Benzolspritze ins Herz ermordet worden.
Im Anschluss sei sein 1933 geborener Bruder, der vor zwei Jahren gestorben ist, auf Intervention seiner Mutter ins Frauenlager gekommen. Ende November 1944 sei die verbliebene Familie dann nach Dresden gebracht worden, um in einer Munitionsfabrik zu arbeiten. Ihre Wohnung sei alle zwei Tage von der SS durchsucht worden, seine Mutter habe ihn stets in einem Wäschekorb versteckt. Im Februar 1945 hätten ihn die SS-Häscher entdeckt und angekündigt, ihn am nächsten Tag zu erschießen.
Angeklagte nimmt Schilderungen ohne Regung zur Kenntnis
Dann sei in der Nacht zum 14. Februar die Bombennacht von Dresden gekommen, die er überlebte und die ihm das Leben rettete. Letztlich musste die Familie kurz vor Kriegsende an einem Todesmarsch teilnehmen. Sie flüchtete nach einem Fliegerangriff in den Wald, wurde dann von einem tschechischen Bauern in einer Scheune bis zur Ankunft der Amerikaner versteckt.
„Das fällt schwer, über diese Sachen zu reden“, sagte Salomonovic nach Ende des Prozesstages. Er hatte während seiner Aussage ein Bild seines Vaters in Richtung von Irmgard F. gehalten, die nicht darauf reagierte. „Sie sollte etwas ganz Konkretes sehen. Für mich ist sie indirekt schuld, vielleicht hat sie ja den Stempel auf den Totenschein meines Vaters gemacht“, so der Zeuge im Anschluss.
Die nächste Stutthof-Überlebende sagt kommende Woche aus
Eine Entschuldigung der Angeklagten („Ich hatte ein ungutes Gefühl mit ihr im Raum“) würde ihm nichts bringen, so Salomonovic, der in dem Verfahren einer von 31 Nebenklägern ist. Sein Schlusswort: Er sei froh, „die Sache hinter mich gebracht zu haben“.
Am nächsten Dienstag will das Gericht Asia Shindelman vernehmen. Die 93 Jahre alte Stutthof-Überlebende lebt in den USA und wird von dort per Videoschalte ihre Aussage machen können.
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