Kulturkritik

Eingewiesen ins total verrückte Suchtzentrum

| Lesedauer: 7 Minuten
Kitty Haug
Abendblatt-Redakteurin Kitty Haug als planlose Arzthelferin. Zum Glück gibt’s Formulare zum Ausfüllen. Wofür? Das ist doch nun wirklich egal...

Abendblatt-Redakteurin Kitty Haug als planlose Arzthelferin. Zum Glück gibt’s Formulare zum Ausfüllen. Wofür? Das ist doch nun wirklich egal...

Foto: Arne Kolarczyk

In Elmshorn läuft eine skurrile Mitmach-Ausstellung. Oder ist es eine Therapie? Was eine Abendblatt-Redakteurin erlebt hat.

Elmshorn.  An der Außenfassade blinken bunte Lichter. Das weiße Leuchtschild über dem Haupteingang weist das Gebäude als „Suchtherapiezentrum“ aus. Menschen gehen ein und aus, Ärzte in weißen und roten Kitteln wuseln herum.

„Wo finde ich den Raum 420? Die Dame am Empfang sagte mir, dort würde ich Frau Doktor Oelker treffen“, fragt mich eine Besucherin verzweifelt. Ich zucke mit den Schultern, sage ihr, dass ich nicht helfen könne, und hacke vehement auf die Tasten einer uralten Schreibmaschine. Als Statistin in der begehbaren und außergewöhnlichen Rauminstallation „Suchtherapienzentrum a. v. B. (außerhalb von Berlin)“, die die Hamburger Künstlerin Tina Oelker in der ehemaligen Post an der Berliner Straße installiert hat, bin ich jetzt eine Arzthelferin.

Aber wo ist Frau Doktor Oelker? Ich weiß es nicht. Ich sitze an einem Klapptisch in einem spartanisch eingerichtetem Raum. Vor mir die uralte Schreibmaschine, eine alte Schere, die einem Mordwerkzeug gleicht, und etliche Formulare. Aber Frau Doktor Oelker ist nicht dar­unter. Es ist duster, kalt und wirkt alles andere als einladend.

Passierschein 408 b ist das wichtigste Formular

Es kommen immer mehr Patienten her­ein, nein, es sind natürlich Besucher. Und schon an der Rezeption, wo es das „Einweisungsbestätigungsdokument“ gibt, befinden sie sich inmitten der Installation. Jeder Besucher ist hier angehalten, dieses Formular auszufüllen. Dabei hilft natürlich Chefsekretärin Jacqueline Engel. Je nach Lust und Laune weist sie die Besucher mal zurecht, leserlich zu schreiben oder ein anderes Mal, den Namen rückwärts auf das Formular zu setzen. Weiter geht es zum Einweisungsempfang.

Hier sitzt Janna Busch und verteilt die rosafarbigen Passierscheine 408 b, die ebenfalls korrekt ausgefüllt werden müssen. Ohne diesen Schein ist ein Betreten der weiteren Räume schlicht nicht möglich. Sind alle diese Hürden überwunden, steht dem „vorübergehenden Aufenthalt im Suchtherapiezentrum a. v. B.“, wie es auf dem Passierschein steht, nichts im Wege, und der Besucher kann, muss aber nicht, selbst zum Protagonisten werden.

So irren manche durch die minimalistisch geschmückten Räumlichkeiten, füllen mit viel Spaß weitere Formulare aus, suchen hektisch Ärzte oder Räume, die es gar nicht gibt. Andere wiederum nehmen sich die Zeit und betrachten den Postsortierschrank, die Brieffächer, schauen hoch zu den großen Fenstern in den Raumdecken oder staunen über die dicken Heizungsrohre und Oberleitungen. Und betrachten natürlich die unterschiedlichen Wandmalerein der Künstlerin, die all dies geschaffen hat. Sie heißt übrigens Oelker. Tina Oelker.

Leben ist eingekehrt in die Räume der alten Post. Wahrscheinlich das allerletzte Mal, bevor das Gebäude in Kürze abgerissen wird. „Das ist genau das, was ich wollte“, freut sich Tina Oelker. Als Professorin Doktorin philosophiae begrüßt sie jeden Gast, checkt nach, ob alle Formalitäten korrekt ausgeführt wurden und verteilt in Sektgläsern mal Schluckimpfungen, mal Corona-Boosterimpfungen oder andere Medikationen in sprudelnder alkoholischer Form. Die Vernissage ist gelungen, darüber freuen sich auch ihre Mitstreiter wie der Macher des Postopia-Projekts, Gastronom Malte Findeisen, sowie Christian Franz Cramer vom gleichnamigen Elmshorner Einrichtungshaus, der das Mobiliar und die uralten Schreibmaschinen zur Verfügung stellte.

Beim Körpermaßmessen auf die Zehenspitzen stellen!

„Skurril, wie die alten Räume hergerichtet sind“, ist zu hören oder „Crazy, hier.“ Und es wird viel gelacht, vor allem wenn einer der Ärzte – Dr. h. c. M. Findeisen, Dr. phil. C. F. Cramer oder Dr. rer. nat N. W. P. Püchel – oder alle gleichzeitig scheinbar wirr durch die Räume hetzen, sich lauthals über unleserliche Formulare beschweren, Rezepte ausstellen oder die Patienten auffordern, sich beim Körpermaßmessen auf die Zehenspitzen zu stellen. „Ruhe jetzt! Wir sind hier nicht zum Spaß da“, werden die Lachenden ermahnt.

Ganz bei der Sache ist die Elmshornerin Karen Brodowsky. An meinem Schreibtisch muss sie drei Minuten ausharren, so fordert es ihr Laufzettel. Dabei verrät sie, dass sie die Aktion total gelungen findet. Nicht nur, weil sie ein Fan von Lost Places, sprich vergessenen Orten, ist, sondern weil sie Happenings sehr mag. Und so geht sie unaufhaltsam von Raum zu Raum, spricht jeden Arzt an, holt Rezepte ab und sammelt Unterschriften auf den unzähligen erscheinenden rosafarbenen, weißen und gelben Blättern.

Marc Husten wartet derweilen im Behandlungszimmer von Doktor Oelker. Sein dreijähriger Sohn sitzt auf seinem Schoß und spielt konzentriert mit einer sehr alten Rechenmaschine. „Es ist Leos erster Ausstellungsbesuch“, sagt Husten. „Zuerst fand er es ziemlich spooky hier. Aber wie ich findet er die kalte, feuchte Atmosphäre und das Thema mittlerweile ziemlich lustig und sehr gelungen“. Und dann fasst Husten zusammen, was jeder wissen sollte, der die Ausstellung aktiv miterleben will: „Ich hab’s am Anfang nicht geschnallt, was ich hier machen kann, bis ich merkte, dass ich nichts schnallen soll.“

Manche sammeln Stühle und setzen sich nicht

Neben Oelkers Wandmalereien ist der Postsortierschrank auf jeden Fall ein Hingucker. Es gibt Fächer für Patienten wie beispielsweise Karl-Heinz Rummenigge oder Friedrich Hölderlin. Auch Ablagen für Medikamente wie die Posterisol Akut Salbe oder das Postmectin sind zu finden. An anderen Laden kleben hingegen ironisch klingende und tiefgründige Aphorismen der Künstlerin. „Es gibt Leute, die sammeln Stühle und setzen sich nicht.“ Oder: „Glück ist, wenn man es nicht zu wiederholen versucht.“ Ein Spiel mit Worten findet sich auch auf den Erklärungen der Formulare. Sätze wie „Bei Nebenwirkungen fragen Sie grundsätzlich sich selbst, wahrhaftige Personen, ehrwürdige Vertraute und glauben Sie nichts, denn die Welt ist bereit und paradox“ zeigen, wie gern Oelker mit Worten spielt, um ein Bewusstsein für diese zu finden.

Noch bis zum 14. November lädt das Haus in der Berliner Straße 6 zur aktiven und interdisziplinären Begehung ein, und zwar täglich jeweils von 16 bis 19 Uhr. Der Eintritt ist frei. Es gilt die 3G-Regel. Wer aktiv mitspielen möchte, kann sich unter www.tinaoelker.com anmelden. Möglich gemacht hat diese Präsentation das Stadtmarketing der Krückaustadt, das in diesem Sommer bereits mit dem Projekt Postopia das Gelände um das ehemalige Postgebäude belebte.

Ich muss dringend weiter arbeiten. In die Schreibmaschine hacken. Aber wo ist Raum 420? Und wo um alles in der Welt ist Doktor Oelker?

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