Wedel. Nachbarn des 54 Jahre alten Kohlekraftwerks in Wedel fühlen sich nur unzureichend informiert über die dort anstehende 83,5-Millionen-Euro-Investition. Betreiber Vattenfall will die Anlage am Ufer der Elbe im kommenden und im übernächsten Jahr „ertüchtigen“ lassen. Wie berichtet, steht unter anderem eine große Turbinenrevision auf der Agenda, und das ist nur einer von mehr als 90 Punkten. „Es kann nicht sein, dass man eine Bauakte anfordert und als Reaktion bislang nur eine dreiseitige Bürgerinformation bekommt“, sagt Kerstin Lueckow von der Bürgerinitiative (BI) „Stopp! Kein Mega-Kraftwerk in Wedel“.
Der Bau des sogenannten Mega-Kraftwerks – ein Gaskraftwerk – ist zwar vorerst vom Tisch. Doch kämpfen die Wedelerin und ihre Mitstreiter nun mit aller Macht gegen die Altlast nebenan. Es ist ein Kampf gegen Lärm und Quecksilber, gegen Dezibel und Mikrogramm. Es ist ein Kampf aber auch dafür, dass die Behörden tätig werden sollten. In Lueckows Fokus: das Landesamt für Landwirtschaft, Umwelt und ländliche Räume in Flintbek, kurz LLUR. „Das ist eine Überwachungsbehörde“, sagt sie, „die muss überwachen, und zwar nicht erst dann, wenn eine Bürgerinitiative tätig wird.“
Die Verantwortlichen im LLUR sind unterdessen der Meinung, dass sie überwachten, wo etwas zu überwachen sei, und informierten, wenn es Anlass dazu gebe. Das gelte im Übrigen auch für die anstehende Kraftwerksertüchtigung. Im Wedeler Bauausschuss haben sie das noch mal verdeutlicht. Sven Helmig, Leiter des Zentraldezernats Immissionsschutz, auf die Frage des Ratsherren Wolfgang Rüdiger (SPD), welche Umbauten denn genehmigungspflichtig seien und wann die Bevölkerung einbezogen werde: „Die Öffentlichkeit wird nur informiert, wenn eine Maßnahme so gravierend ist, dass die Unterlagen ausgelegt werden müssen.“ Vieles von dem, was Vattenfall am Tinsdaler Weg vorhabe, sei wahrscheinlich nicht genehmigungs-, ja womöglich nicht mal anzeigepflichtig.
Es sind solche Antworten, die die Kraftwerks-Nachbarn nicht zufriedenstellen. Sie halten das Tischtuch zwischen sich und dem Amt für zerschnitten. „Es gibt überhaupt keine Basis mehr für eine Zusammenarbeit“, sagt Lueckow. „Deshalb läuft alles nur noch über unseren Anwalt.“
Hinzu kommt, dass Bürger aus dem Viertel das LLUR verklagt haben. Die Behörde hatte Vattenfall Ende 2014 Auflagen gemacht, damit die Lärmgrenzwerte eingehalten werden. Vorausgegangen waren Beschwerden. Die Kläger zweifeln nun die Richtigkeit der festgesetzten Grenzwerte an. Sie wollen, dass die Behörde jene für ein reines Wohngebiet anwendet, nicht die für ein aus der Gemengelage heraus faktisch allgemeines Wohngebiet. Es geht um fünf Dezibel. Der Fall liegt nun beim Oberverwaltungsgericht in Schleswig.
Und auch in Sachen Quecksilberemission gibt es Streit. Es geht um ein einzelnes Mikrogramm, das ist das Millionstel eines Gramms. Vor vier Jahren lag der rechnerisch ermittelte Quecksilberausstoß des Kraftwerks im Jahresmittel bei 16 Mikrogramm pro Kubikmeter Abluft, sonst immer darunter. Diese Zahl nennt Vattenfall selbst. Aus Kerstin Lueckows Sicht ist damit eine Grenzwertüberschreitung eingeräumt worden. Denn bei mehr als 15 Mikrogramm pro Kubikmeter reicht eine rechnerische Betrachtung nicht aus, sondern muss kontinuierlich gemessen werden. Karsten Fels vom LLUR sagt auf Anfrage: „Wir haben auch gemerkt, dass dieser Wert im Grenzbereich liegt.“ Die Behörde sei aber zu der Einschätzung gekommen, dass eine kontinuierliche Messung trotzdem nicht erforderlich sei – wegen der Einmaligkeit der Überschreitung, aber auch wegen der 2012 angewendeten „sehr konservativen Berechnung“. Fels: „Der zulässige Quecksilberausstoß liegt übrigens bei 30 Mikrogramm pro Kubikmeter.“
Während Kraftwerksnachbarn und Landesbehörde weiter streiten, beginnt Vattenfall schon in diesem Jahr damit, die Innenwand der Schornsteine zu beschichten. Das Ziel: Künftig soll über Wedel nie wieder ein Gipspartikel-Regen niedergehen.
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