Enrico Zahn hat schwere Fehlbildungen und wird im Heim weggeschlossen. Dann erhält er in Elmshorn eine Chance. Trotz vieler Rückschläge gibt er niemals auf

Elmshorn. Manche Menschen haben die Fähigkeit, scheinbar ausweglose Situationen als persönliche Herausforderung zu begreifen. Enrico Zahn ist so ein Mensch. Ruhig und sachlich erzählt der 30 Jahre alte Elmshorner die Geschichte seines Lebens, die alles andere als gewöhnlich ist.

Sie beginnt in einem Krankenhaus in der Nähe von Dresden, in der damaligen DDR. Hier kommt Enrico auf die Welt. Als die Ärzte die schweren vielfachen Fehlbildungen sehen, die das Baby hat, räumen sie dem Neugeborenen keine nennenswerte Überlebenschance ein. Sie teilen seiner Mutter mit, dass das Kind nicht überlebt hat.

Tatsächlich bleibt Enrico im Krankenhaus. Er leidet an einem halb offenen Kopf, Sehschädigung mit nur noch fünf Prozent Sehfähigkeit, Kiefer-Gaumen-Spalte und zwei zusammengewachsenen Fingern. Aber Enricos Lebenswille ist stärker als angenommen. Als den Ärzten klar wird, dass sie sich hier geirrt haben, werden seine offenen Stellen notdürftig zugenäht, die Kiefer-Gaumen-Spalte nur teilweise behandelt. Seine ersten drei Lebensjahre verbringt er komplett im Krankenhaus, ein- bis zwei Operationen muss er pro Jahr durchstehen.

Zu seinen ersten Erinnerungen gehört das Gefühl von Einsamkeit: „Ich weiß, dass ich immer alleine im Krankenhaus war und keinen Besuch von meinen Eltern hatte“, sagt der junge Mann. Doch Vater und Großmutter wissen, dass er am Leben ist, irgendwann erfährt es auch die Mutter. Enrico kommt für einige Wochen nach Hause, doch die Mutter ist überfordert. Sie gibt an, zu ihrem Sohn keine Beziehung aufbauen zu können. „Ich kam direkt in ein Heim für geistig Behinderte“, sagt Zahn. Aufgrund seiner Fehlbildungen geht man damals einfach davon aus, dass bei ihm auch irreparable Hirnschädigungen vorliegen.

Und wieder irren die Verantwortlichen. Die wenigen Fotos, die Zahn aus der Kindheit besitzt, zeigen ihn in einer Umgebung, die wenig anheimelnd wirkt – oder draußen in freier Natur. Doch auch die ist nicht wirklich frei zugänglich. Denn das Gelände ist umzäunt, die Heimbewohner dürfen es nicht verlassen. In der DDR schließt man die Behinderten weg. Als nach der Öffnung der Grenzen die Heimbewohner das erste Mal ins Kino gehen, gibt es einen regelrechten Menschenauflauf, die Leute drehen sich nach ihnen um, bleiben stehen, starren, tuscheln.

Das Heim war für den behinderten Jungen wie ein Gefängnis

Das passiert auch Enrico, als er mit seinen späteren Adoptiveltern Walter und Angelika Zahn den Zoo in Halle besucht. „Einer hat ihm im Laufen so lange nachgestarrt, bis er selbst auf die Nase gefallen ist“, sagt sein Adoptivvater. Als er das erste Mal von Enricos Schicksal erfährt, befindet sich dieser bereits im zweiten Heim. Er ist nun im schulfähigen Alter, und dieses Heim hat eine Schule. Zum Geburtstag und zur Einschulung besuchen ihn seine Eltern zwar, aber „andere Kinder hatten regelmäßigen Wochenendkontakt, nur ich war dauernd im Heim. Hier gab es auch Gastfamilien, doch mich wollte aufgrund meiner Behinderung keiner haben. Es war wie im Gefängnis auf einem abgezäunten Gelände“, berichtet Zahn. Da er an den Wochenenden zwar unter Aufsicht steht, aber seine Altersgenossen nicht da sind, beschäftigt er sich selbst. Die Zimmer sind klein, vier Kinder sind darin untergebracht, jedes hat ein Bett, einen kleinen Schreibtisch, einen Schrank. Als Walter Zahn Enrico im Heim besucht, fallen ihm die Glasfronten der Kinderzimmer auf, die diese zum Gang hin haben. „Die Betreuer sind da längs gegangen und konnten so immer alles sehen“, sagt er. Für Acht- bis Vierzehnjährige ist Privatsphäre nicht vorgesehen. Enrico nimmt das alles als gegeben hin. „Dadurch, dass ich keine anderen Wohnformen kannte, war das normal für mich.“

Nach der Wende nimmt der Bundesverband für Pflegeeltern die Ausbildung von Pflegefamilien in der Ex-DDR in Angriff. Weil im Osten Pflegestellen fehlen, wird nun erstmals bundesweit danach gesucht. In der Vereinszeitung erscheint Enricos Lebenslauf. Das Ehepaar Zahn nimmt Kontakt auf, lässt sich Bilder schicken. Und überlegt. „Schließlich haben wir gesagt, warum sollen wir das nicht wagen“, erinnert sich Adoptivvater Walter Zahn.

Da sich Enrico für mehrere Operationen immer wieder in der Uniklinik Münster aufhalten muss, besuchen sie ihn dort. „Wir gingen in sein Zimmer, da lag er dann ganz klein in seinem Trainingsanzug und fragte: ,Habt ihr denn Kinder zu Hause?’“, sagt Walter Zahn.

Enrico weiß zu diesem Zeitpunkt bereits, dass das Ehepaar vielleicht nicht nur die Station besichtigen möchte, wie es offiziell heißt. Und die Zahns beschließen, Enrico das Zuhause zu geben, das er vorher nie hatte.

Auf der Abschiedsfeier vom Heim verschenkt er bis auf die Eisenbahn alle seine Spielsachen an die anderen Kinder. Er sagt, dass der Umzug „seine persönliche Wende“ war. Anfangs muss er erst einmal richtig laufen lernen, die Freiheit ist noch ungewohnt. Doch es dauert nicht lange, dann will er mit anderen Kindern mithalten, auf Bäume klettern, Sport machen. Trotz Sehbehinderung lernt er Judo, fährt Skateboard, macht Leichtathletik. In der Grundschule der Sehbehindertenschule in Hamburg kann er die vierte Klasse auf zwei Jahre strecken und auch hier die Defizite nach und nach abbauen.

Als er den Wunsch äußert, Abitur machen zu wollen, unterstützen ihn seine Adoptiveltern. Auch der Rektor der Kooperativen Gesamtschule Elmshorn kann sich das vorstellen. Enrico kommt dort in die neunte Klasse. Mithilfe von Lesegeräten, Hörbüchern, vergrößerten Kopien und Kameraeinrichtung für Tafelbilder bewältigt er den Oberstufenstoff. „Oft habe ich ganze Bücher auf Hörkassetten gesprochen“, sagt Walter Zahn. „Es war Disziplin angesagt, sich abends hinzusetzen und alles an Schriftlichem aufzuarbeiten.“ Enrico Zahn hat Disziplin, er weiß, was er will. Sein schönstes Erlebnis ist der Moment, in dem man ihm mitteilt, dass er das Abitur bestanden hat.

Danach möchte er einen Beruf lernen, aber der Berater vom Arbeitsamt schlägt ihm nur behindertenspezifische Ausbildungen vor wie die zum Korbflechter in Chemnitz. Willi Düe vom Landesförderzentrum Sehen in Schleswig fragt Zahn dagegen bei einer Berufsberatung: „Was möchtest du machen, ohne deine Sehbehinderung zu berücksichtigen?“ Zahn entscheidet sich für eine Ausbildung zum staatlich anerkannten Erzieher, die er erfolgreich abschließt. Er kann sich gut vorstellen, Jugendliche mit Behinderung zu betreuen, die so sind wie er, die etwas erreichen wollen. Ebenfalls vorstellen kann er sich Schulbegleitung, Freizeit- oder Hausaufgabenbetreuung in der Grundschule.

„Kinder sind direkter, die fragen einfach, tut das weh oder was ist das, dann sind sie damit durch“, sagt Walter Zahn. Das Problem sind Erwachsene, die mit der Behinderung seines Sohnes nicht umgehen können. Sie trauen Enrico Zahn die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen nicht zu. Nach 120 erfolglosen Bewerbungen entscheidet er sich für ein Studium. Er will einen möglichst guten Abschluss machen, um „das Handicap der Behinderung zu kompensieren“, wie er sagt. Er zieht in ein Studentenheim in Kiel. „Ich habe mich ganz knallhart aufs Lernen konzentriert.“ Bei Gruppenarbeiten bereitet er alles auf und hilft auch anderen, wenn diese den Anschluss verlieren. Für seine Bachelor-Arbeit erhält er die Note 1,3. Den Bachelor in Pädagogik und Soziologie schließt er mit 1,8 ab.

Zahn glaubt, das wäre nun genug Qualifikation, um einen Job zu finden. Doch er wird schnell von der Realität eingeholt. Alles, was Zahn braucht, ist eine Chance zu zeigen, was er kann, wie auch in den verschiedensten Praktika, die er absolviert. Als er an der Gesamtschule Elmshorn ein Praktikum macht, würde ihn die Schulleitung gerne behalten. Doch die Verantwortlichen sitzen nicht in der Schule, sondern bei der Stadt – und die sortiert seine Bewerbung aus. Er bewirbt sich nach einem Praktikum, bei dem er Pflegefamilien zu Hause besucht, beim Allgemeinen Sozialen Dienst des Jugendamtes. „Sie haben ihm nur gesagt: ,Du kriegst doch die Emotionen nicht mit, die bei den Leuten vorliegen’“, sagt sein Vater.

Zahn schreibt rund 300 Bewerbungen und bekommt nur Absagen

Enrico Zahn schreibt rund 300 Bewerbungen an alle größeren sozialen Einrichtungen von Itzehoe über Norderstedt und Hamburg: Fehlanzeige. „Bei gleicher Qualifikation sind Behinderte vorzuziehen. Es gibt immer Möglichkeiten. Aber meiner Meinung nach ist viel geblockt worden“, fasst sein Adoptivvater seine Erfahrungen zusammen.

Doch sein Sohn gibt nicht auf. Er sucht sich eine Stelle im Bundesfreiwilligendienst und findet sie beim Kreisjugendring Pinneberg, zu dem auch die Jugendbildungsstätte in Barmstedt gehört. Die Geschäftsführung sieht schnell, was er leisten kann. Man überträgt ihm immer weitere Aufgaben. Birgit Hammermann, die stellvertretende Geschäftsführerin und Leiterin der Jugendbildungsstätte, sagt, dass „wir den Vorteil hatten, Enrico Zahn durch den Bundesfreiwilligendienst kennenzulernen. So ein fähiger Mann, er entwickelt sich permanent fort und hat echte Nehmerqualitäten, wenn es um Kritik oder Verbesserungsvorschläge geht. Damit kann er auch Vorbild sein für andere, die nicht so einen schweren Lebensstart hatten.“ Zahn engagiert sich auch ehrenamtlich, macht mit beim Ferienpass, erwirbt den Jugendleiterschein, den Kletterschein, um an Kletterwänden Hilfestellung leisten zu können, und betreut eine Gaukleraktion, „wieder mit vielen Kindern“. Dafür bringt er sich auch Jonglieren bei. Er leistet auf vielen Gebieten Erstaunliches

Der junge Mann will sich nicht damit abfinden, arbeitslos zu sein

Birgit Hammermann verfolgt mit, wo überall er sich in dieser Zeit bewirbt. „Dann haben wir uns gedacht, es wäre doch schön, diese Leistung und Qualifikation, die er hat, für den Verein einsetzen zu können. Der war so gut – den wollten wir selbst haben.“ Zahn bewirbt sich und wird im November vergangenen Jahres Teamassistent der Geschäftsführung. Seine Aufgaben sind vielfältig und abwechslungsreich, so hat er zum Beispiel am Computer auch das Layout einer neuen Broschüre erstellt. „Für uns hat er keine Einschränkungen. Außer der Teamassistenz übernimmt er auch die Rezeption, auch da gibt es überhaupt keine Schwierigkeiten“, betont Birgit Hammermann. Die Stelle ist allerdings auf zwei Jahre befristet. „Wir wissen daher noch nicht, ob wir Herrn Zahn weiterbeschäftigen können“, sagt die stellvertretende Geschäftsführerin.

Privat hat Zahn viele Interessen. Er fotografiert, repariert Fahrräder, wandert und betreut Internetseiten von Vereinen. Er findet immer wieder neue Herausforderungen. Er wünscht sich, dass er auch beruflich weiterhin Möglichkeiten zur persönlichen Entwicklung hat, denn „Arbeitslosigkeit bedeutet für mich Stillstand. Abfinden mit so einem Zustand würde ich mich nicht.“