In Schleswig-Holstein sind mehr als 150 psychotherapeutische Praxen bedroht, davon 23 im Kreis Pinneberg

Kreis Pinneberg. Die Psychotherapeutenkammer Schleswig-Holstein (PKSH) befürchtet den Abbau von 153 psychotherapeutischen Praxen – ein Viertel der vorhandenen Praxen. Mit dem GKV-Versorgungsstärkungsgesetz plant die Bundesregierung, 7400 psychotherapeutische Praxen in ganz Deutschland abzubauen, davon 23 im Kreis Pinneberg. Dies entspricht 39 Prozent und ist nach Neumünster/Rendsburg-Eckernförde die zweithöchste Quote landesweit.

Die Wartezeiten für psychisch kranke Menschen würden sich dadurch drastisch verlängern. „Die Anzahl der psychotherapeutischen Praxen, die 1999 als ausreichend festgelegt wurde, hatte schon damals mit dem realen Bedarf nichts zu tun und ist viel zu niedrig“, sagt Diplom-Psychologe Juliane Dürkop, Präsidentin der PKSH. „Dadurch droht jetzt ein radikaler Abbau von ambulanten Behandlungsplätzen.“ Die angebliche Überversorgung existiere nur auf dem Papier. „In der Realität warten psychisch Kranke monatelang auf einen ersten Termin bei einem niedergelassenen Psychotherapeuten.“

Diese Beobachtung machen auch Experten im Kreis Pinneberg. So musste der Frauentreff Elmshorn einen Fonds einrichten, um bei Traumata lange Wartezeiten auf Therapieplätze zu überbrücken. In ihre Beratungsstelle kommen auch Opfer sexueller Gewalt. „Diese Frauen brauchen schnelle therapeutische Hilfe“, sagt Beraterin Lisa Schnelten. Doch oft müssten sie ein halbes bis ein Jahr auf einen Therapieplatz warten. Denn in Elmshorn und Umgebung herrsche ein Mangel an psychotherapeutischen Angeboten.

Diese Erfahrung macht auch Ingrid Kohlschmitt, Geschäftsführerin und Gründerin des Wendepunkts, der am Hauptsitz Elmshorn sowie in Quickborn, Schenefeld und Hamburg Hilfe für Kinder, Jugendliche und Familien nach Traumatisierungen, gewaltsamen oder sexuellen Übergriffen anbietet. „Die Weitervermittlung an andere Fachdienste und Experten ist nicht immer sofort möglich. Manche Therapeuten und niedergelassene Psychologen für Kinder und Jugendliche sind so überlaufen, dass sie nicht mal mehr Wartelisten führen, sondern damit vertrösten, es zu einem späteren Zeitpunkt noch mal zu versuchen“, sagt Kohlschmitt. Dabei sei ein schnelles Eingreifen notwendig. „Wenn ein Kind Gewalt erfahren hat, kann man nicht warten.“ Die vielen, von Kriegen traumatisierten Flüchtlinge, die hier Schutz suchten, würden die Lage noch verschärfen.

Mit dem Versorgungsstärkungsgesetz plant die Bundesregierung, Praxissitze von Ärzten oder Psychotherapeuten nicht wieder zu besetzen, wenn in einer Region zu viele Praxen existieren. Sie geht von einer Überversorgung aus, wenn die vorhandenen Praxen über 110 Prozent der Anzahl der Praxen liegen, die die Bedarfsplanung vorgibt. Ein Bedarf an psychotherapeutischen Behandlungsplätzen sei laut PKSH aber nie ermittelt worden. Vielmehr seien die psychotherapeutischen Praxen, die am 31. August 1999 existierten, schlicht zum Bedarf erklärt worden. „Ohne eine Reform der Bedarfsplanung ist eine seriöse Versorgungsplanung für psychisch kranke Menschen nicht möglich“, sagt Dürkop. Psychisch kranken Menschen werde die dringend erforderliche Behandlung vorenthalten und gleichzeitig in Kauf genommen, dass sich ihr Leiden verschlimmere oder chronisch werde. Vor dem Hintergrund immer noch vorhandener monatelanger Wartezeiten auf einen Psychotherapieplatz seien nicht weniger, sondern mehr Praxen erforderlich.

Auch die Kassenärztliche Vereinigung Schleswig-Holstein (KVSH) warnt vor den Folgen des geplanten Versorgungsstärkungsgesetzes. Die KVSH soll verpflichtet werden, diese Arztsitze aufzukaufen und stillzulegen. „Das geplante Gesetz schwächt die Patientenversorgung und stellt unsere Bemühungen um ärztlichen Nachwuchs auf den Kopf“, sagte Dr. Monika Schliffke, Vorstandsvorsitzende der KVSH. Sollte das Gesetz so kommen wie geplant, fielen rein rechnerisch rund 77 Hausarztsitze, 540 Sitze bei den Fachärzten und 153 bei den Psychotherapeuten weg. Jeder sechste Vertragsarztsitz in Schleswig-Holstein würde verschwinden. „Auf der einen Seite soll es wegen angeblich zu langer Wartezeiten eine Termingarantie geben, auf der anderen Seite werden Arztpraxen einfach dicht gemacht“, sagt Schliffke. „Dabei sind diese Praxen nicht leer, sondern voll. Das ist absurd.“

Zum Hintergrund: Der Beruf des Psychotherapeuten wurde erst mit dem Psychotherapeutengesetz 1999 gesetzlich geschützt. Seither brauchen Psychotherapeuten eine Zulassung für die gesetzliche Krankenversicherung. Die Anzahl der Praxen, die bis zum 31. August 1999 eine Zulassung bekommen hatten, wurde zum psychotherapeutischen Bedarf erklärt. Bis dahin waren aber längst nicht alle Zulassungsanträge bearbeitet. Viele Psychotherapeuten erhielten ihre Zulassung erst nach jahrelanger Auseinandersetzung mit den Kassenärztlichen Vereinigungen. Das führte bundesweit zu einem Anstieg der zugelassenen Praxen von 1999 bis 2006 um gut 5.000 Psychotherapeuten, der verwaltungstechnischen Verzögerungen geschuldet war. Jede dieser verspäteten Zulassungen führte statistisch zu einer Überversorgung.

Noch gravierender sei laut PKSH ein weiterer Berechnungsfehler. Bei den Psychotherapeuten wurde die durchschnittliche Anzahl der Praxen in ganz Deutschland zugrunde gelegt. In den neuen Bundesländern war Ende der 90er-Jahre eine psychotherapeutische Versorgung jedoch erst im Aufbau. Bei den Ärzten wurden deshalb für die Bedarfsplanung allein die westdeutschen Praxen gezählt; bei den Psychotherapeuten jedoch der Durchschnitt von West- und Ostdeutschland ermittelt. Bei den Psychotherapeuten wurde die Zahl der Praxen, die für eine ausreichende Versorgung psychisch Kranker notwendig sei, so systematisch heruntergerechnet.