Nach Paragraf 177 reicht bislang verbale Gegenwehr nicht, um den Peiniger zu verurteilen

Elmshorn. In Deutschland erlebt jede siebte Frau schwere sexualisierte Gewalt. Nur ein Bruchteil der Taten wird angezeigt, nämlich 100 von 1000 Vergewaltigungen. Die wenigsten Täter werden verurteilt – lediglich neun von 100 Angezeigten. Schuld daran ist unter anderem das deutsche Sexualstrafrecht. Demnach reicht es nicht aus, wenn sich das Opfer lediglich verbal gegen seinen Peiniger wehrt. Der Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe setzt sich für die Reformierung des betreffenden Paragrafen 177 ein. Sie haben Postkarten bedrucken lassen, mit denen die jeweiligen Justizminister der Länder gebeten werden, sich für eine Gesetzesänderung starkzumachen.

Auf lokaler Ebene unterstützen die Frauenberatungsstellen dieses Vorhaben. In Elmshorn machten die Beraterinnen im Frauentreff während der Aktionswoche „Gewalt kommt nicht in die Tüte“ in der Innenstadt an einem Infostand auf das Problem aufmerksam. Sie fragten Passanten, ob sie der Meinung seien, dass sexuelle Handlungen gegen den Willen von Frauen unter Strafe gestellt werden sollten. „Die meisten gingen davon aus, das dies sowieso der Fall sei“, sagt Beraterin Karina Sahling.

Etwa 60 Passanten unterschrieben in weniger als zwei Stunden die Postkarten, die an Schleswig-Holsteins Justizministerin Anke Spoorendonk adressiert sind. Darauf steht: „Wir fordern, dass sexuelle Handlungen zukünftig strafbar sind, wenn sie ohne Einverständnis der anderen Person erfolgen. Damit könnte eine Gerechtigkeitslücke für Opfer von Sexualstraftaten geschlossen werden.“ Die Karten schickt Sahling nun gesammelt nach Kiel.

Denn damit deutsche Gerichte Vergewaltigungen bestrafen können, müssen mehrere Tatbestände erfüllt werden. So müssen Täter Gewalt anwenden oder mit „gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben“ drohen. Das Opfer muss sich zudem körperlich gewehrt haben. Außerdem spiele die „schutzlose Lage“ eine wichtige Rolle, erklärt Sahling. Diese sei anzunehmen, wenn der Tatort im Wald liegt, keine Hilfe in Aussicht sei und der Täter körperlich überlegen erschiene oder wenn die Tat zum Beispiel in einem menschenleeren Gebäude bei verschlossener Tür geschah. Dann muss vor Gericht nachgewiesen werden, dass das Opfer gerade mit Rücksicht auf die schutzlose Lage von Widerstand absah.

Das führt dazu, dass in vielen Fällen die rechtliche Handhabe gegen den Peiniger fehlt. „Ich muss leider sagen, dass wir einigen Frauen, die zu uns in die Beratung kommen, sogar von einer Anzeige abraten“, sagt sie. Nicht jede sei psychisch so stabil, dass sie einen Prozess durchstehe, und die Aussichten auf Gerechtigkeit erschienen oft zu gering. Ein unhaltbarer Zustand, den die Beraterin so nicht mehr hinnehmen möchte.

„Diese Regelung schützt vor allem gewalttätige Lebenspartner“, sagt Sahling. So zum Beispiel den Ehemann, der nicht jeden Tag zuschlägt, weil die Frau vorauseilend jeden seiner Wünsche erfüllt, um Gewalt zu vermeiden. Die Frau hat früher schon mehrfach wiederholt, dass sie keinen Sex will. Der Mann hat sich stets gewaltsam darüber hinweg gesetzt. Es kommt erneut zum Geschlechtsverkehr. Die Frau weint und fleht, er soll aufhören, setzt sich aus Angst aber nicht körperlich zur Wehr, um ihre Kinder im Nebenzimmer zu schützen. Sie schreit auch nicht um Hilfe, aus Scham vor den Nachbarn. Fälle wie diesen kennt Sahling auch aus ihrer Praxis.

„Juristisch gesehen hat sie keine Chance, dass ihr Mann wegen Vergewaltigung verurteilt wird“, sagt Sahling. Gleiches gelte, wenn der Täter droht, aber nicht mit „gegenwärtiger“ Gefahr, wie es juristisch heißt. Vielmehr übt er Druck aus, indem er droht, die Katze aus dem vierten Stock zu werfen, wenn die Frau nicht stillhält oder sich später an den Kindern zu rächen.

„Nach europäischem Recht könnten diese Fälle strafrechtlich verfolgt werden“, sagt Sahling. Der Europarat hatte 2011 in der Istanbuler Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt festgelegt, dass „vorsätzliche nicht einverständliche sexuell bestimmte Handlungen“ mit einer Person unter Strafe gestellt werden. „Das Einverständnis muss freiwillig als Ergebnis des freien Willens der Person, der im Zusammenhang der jeweiligen Begleitumstände beurteilt wird, erteilt werden.“ Diese vertragliche Verpflichtung hat auch Deutschland unterschrieben.