Der Poetry Slam „Wedel Schädel“ hat sich zur regionalen Kultadresse für Neu-Literaten und Könner etabliert

Wedel. Alle sind scharf auf Eddie. Dabei ist er alles andere als eine Schönheit. Pink und himmelblau blinken seine starren Froschaugen unter einem vollkommen kahlen Schädel, und wenn niemand seinen Unterkiefer festhält, klappt Eddies knochige Zahnreihe einfach ab. Trotzdem stehen bis zu zehn Anwärter zwölf Mal im Jahr Schlange für dieses Unikum. Denn Eddie ist der „Wedel Schädel“, die knochenfarbene Kunststoff-Trophäe des gleichnamigen Poetry Slam, der das geräumige Hinterzimmer der Gaststätte Bier- und Wein-Comptoir (BWC) allmonatlich bis auf den letzten Holzstuhl füllt. Die ultimative Auszeichnung für mutige Literaten ist in Norddeutschland einmalig. Es gibt ihn nur in Wedel, nur im BWC an der Mühlenstraße und nur an jedem dritten Donnerstag im Monat, immer von 20 Uhr an und bei freiem Eintritt.

Die Regeln sind einfach. Maximal sechs Minuten Zeit hat jeder der Kandidaten, die auf dem dunkelbraunen Leder eines schmalen Ecksofas auf ihren glorreichen Moment warten, um das Publikum mit einem selbst verfassten Text nebst entsprechender Performance von seinen literarischen Fähigkeiten zu überzeugen.

Bewertet wird per Akklamation. Das bierselige Einpegeln der Applausstärke auf einer Skala von eins bis zehn ist Teil der Gaudi. Außerdem dürfen fünf freiwillige Zuhörer als Spontan-Juroren Punkte vergeben. Und egal, wie dürftig der Vortrag ausfällt: Jeder Slammer bekommt zumindest einen mageren Applaus. „Ausgebuht wird hier niemand“, sagt Wedel-Schädel-Erfinder und -Moderator Sven Kamin, 35. „Bei uns gilt die Maxime: ‚Respect the Poet’. Schließlich ist es ganz schön mutig, sich hier mit einem eigenen Text zu präsentieren.“ Wer die meisten Punkte hat, kassiert am Ende des Abends die Siegprämie von 30 Euro und, was den meisten Kandidaten wesentlich wichtiger ist, den knochigen Eddie.

Der Text muss zwingend eine Eigenproduktion sein. Ansonsten setzt Initiator Kamin den Slammern kaum formale Grenzen. Ob gereimt oder gerappt wird, der Slammer sich auf der Gitarre oder Triangel begleitet, sich Themen an der Grenze zur Peinlichkeit sucht, sei ihm vergleichsweise unwichtig, sagt Kamin. „Bei uns wäre sogar Ausdruckstanz möglich, es ist grundsätzlich eine offene Bühne.“ Denn gerade den Anfängern im Reich der frechen Sprachakrobaten fehle es an Auftrittsmöglichkeiten. Diese Lücke will Kamin schließen: „Ich möchte nicht ausschließlich Leute präsentieren, die schon erfolgreich sind, sondern eher ein offenes Forum schaffen.“

Und wo zieht Kamin dabei inhaltlich die Grenzen des guten Geschmacks? „Wenn es zu übel wird, würde ich jemand einfach von der Bühne holen.“ Beim Wedel-Schädel sei das allerdings bislang nicht vorgekommen. Heikel sei die Sache mit den Grenzen auch deshalb, weil Kunst durchaus provozieren wolle und dürfe. „Wenn jemand zum Beispiel einen rassistischen oder rechtsradikalen Text hat, kann es gut sein, dass sich mit der Pointe am Ende alles zum Sarkasmus wendet, dass der Slammer die Klischees ironisch bricht“, sagt Kamin. „Das weiß man bloß vorher nie, und da kann man ganz schön hereinfallen.“

Der gelernte Zeitungsredakteur zählt selbst zur norddeutschen Slam-Elite

Der gelernte Zeitungsredakteur, Anglist und Historiker brennt nicht nur für kunstvolle Formulierungen, sondern zählt selbst zur norddeutschen Slam-Elite. Von seinem Szene-Start anno 2008 weg gewann er Wettbewerbe, wurde 2011 der allererste niedersächsisch-bremische Landesmeister überhaupt und schlug sich 2012 wacker bei den Deutschen Meisterschaften. „Es ist ein unglaublicher Spaß, das zu machen“, sagt der frischgebackene Vater einer kleinen Tochter. „Diese Chance möchte ich vielen Menschen einräumen.“ Schon während des Studiums in Kassel spielte er Theater, schrieb Kabarett-Texte. „Es ist cool, auf einer Bühne zu stehen. Und beim Slammen sind die Schauspieltechniken, die ich damals gelernt habe, sehr hilfreich.“ Ob ein neuer Text zündet, testet Kamin in der Regel vor seinem persönlichen Ein-Frau-Probepublikum aus. Denn die erste, die seine frisch gedichteten Kreationen zu Gehör und Gesicht bekommt, ist seine Ehefrau.

Wedel sei ein gutes Pflaster für den Poetry Slam. „Das Publikum ist hier sehr offen.“ Die Nähe zur Slam-Hochburg Hamburg sei dabei kein Nachteil, sondern sogar ein großer Vorteil für die Szene rund um den Roland. „Viele Hamburger Slammer gastieren in Wedel, und für die lokalen Kollegen ist es nach ersten Erfolgen in Wedel kein allzu weiter Weg auf die größeren Bühnen der Metropole.“

Inspiration für seine eigenen Kreationen schöpft der gebürtige Bremer Kamin, der extra fürs Slammen Plattdeutsch lernte, aus ganz alltäglichen Szenen. Es kann beim Kuchen backen im heimischen Reihenhaus ebenso zünden wie auf dem gut einstündigen Weg zur Arbeit bei einer Agentur in Hamburg. Die legt Kamin jeden Morgen mit dem Rad zurück. „Dabei habe ich ziemlich oft gute Ideen.“

Am Donnerstag, 17. Juli, um 20 Uhr beginnt der nächste Wedel Schädel im BWC, Mühlenstraße 2. Der Eintritt ist frei.