Helfer der Einrichtung Wendepunkt erhalten immer mehr Anfragen, können sich aber nicht um alle Fälle kümmern

Elmshorn. Seit einiger Zeit beobachtet die Grundschullehrerin, dass ihre Schülerin sich immer mehr zurückzieht. Das sonst so fröhliche Mädchen, redet selten und wenn dann leise. In der Hofpause steht es abseits, spielt nicht mit den anderen Kindern. Die Pädagogin weiß, dass das Mädchen in schwierigen Familienverhältnissen aufwächst. Der Vater neigt zu Wutausbrüchen, wenn er trinkt. Als die Lehrerin das Kind fragt, ob etwas vorgefallen ist, schüttelt das Mädchen nur schüchtern den Kopf. In der Lehrerin keimt ein schrecklicher Verdacht. Wurde das Kind missbraucht? Sie sucht Hilfe beim Wendepunkt in Elmshorn. Dort sagt ihr eine freundliche Mitarbeiterin, dass die Einrichtung derzeit keine Kapazitäten mehr habe, um neue Fälle aufzunehmen. Sie kommt auf eine Warteliste.

„Wir konnten im vergangenen Jahr nicht alle 184 Anfragen wegen sexuellen Missbrauchs bearbeiten“, bestätigt Ingrid Kohlschmitt, Geschäftsführerin und Gründerin des Wendepunkts, der am Hauptsitz Elmshorn sowie in Quickborn, Schenefeld und Hamburg Hilfe für Kinder, Jugendliche und Familien nach Traumatisierungen, gewaltsamen oder sexuellen Übergriffen anbietet. Acht Menschen, die 2013 diese Hilfe suchten, mussten auf eine Warteliste gesetzt und 19 weiterverwiesen werden. 157 Fälle konnten die insgesamt 34 Mitarbeiter, von denen nicht jeder eine Vollzeitstelle hat, betreuen, zehn mehr als in der Vereinbarung mit dem Kreis vorgesehen. Als Konsequenz würde sich allerdings die vorgesehene Beratungszeit von durchschnittlich 12,2 Stunden pro Fall verkürzen, sagt Kohlschmitt. Außer der Traumaintervention und Beratung von Opfern kümmern sich die Mitarbeiter des Wendepunkts noch um Täterarbeit und Rückfallprophylaxe sowie um Fortbildungsmaßnahmen und schulische Gewaltprävention. Zählt man alle Aufgabenbereiche zusammen, wurden 635 Fälle an den Wendepunkt herangetragen.

„Durch den Fünf-Jahres-Vertrag mit dem Kreis steht unsere Arbeit zwar auf festen Füßen“, sagt Kohlschmitt. Früher hätte sie jedes Jahr in politischen Gremien um die Finanzierung der Beratungsstelle kämpfen müssen. „Aber es läuft etwas falsch, wenn man froh ist, dass jemand nicht mehr anruft.“ Bei gleichbleibenden Zuschüssen sei der Tariflohn gestiegen, dadurch bliebe weniger Geld für die eigentliche Arbeit. Die Folge: Es werden weniger Fälle bearbeitet. Demgegenüber suchen immer mehr Menschen beim Wendepunkt Hilfe. So waren es 2013 insgesamt 20 Anfragen mehr als im Vorjahr.

„Um den Fallanfragen gerecht zu werden, reichen die Mittel nicht aus“, sagt Kohlschmitt. Der Druck auf die Mitarbeiter werde zudem immer größer. „Natürlich mag niemand jemanden wegschicken, der sich endlich durchgerungen hat, über seinen Missbrauch zu sprechen.“ Doch gerade zum Ende eines Jahres käme dies vor. „Bei besonders akuten Fällen versuchen wir zu überbrücken und setzen Spendengeld ein“, sagt Kohlschmitt.

Auch die Weitervermittlung an andere Fachdienste und Experten ist nicht immer sofort möglich. „Manche Therapeuten und niedergelassene Psychologen für Kinder und Jugendliche sind so überlaufen, dass sie nicht mal mehr Wartelisten führen, sondern damit vertrösten, es zu einem späteren Zeitpunkt noch mal zu versuchen“, sagt Kohlschmitt. Dabei sei in vielen Fällen ein schnelles Eingreifen notwendig. „Wenn ein Kind Gewalt erfahren hat, kann man nicht warten“, sagt Kohlschmitt. So könnten bei schnellem Eingreifen zum Beispiel mit der traumabearbeitenden Psychotherapiemethode „Eye Movement Desensitization and Reprocessing“ (EMDR) sehr schnell gute Erfolge erzielt werden und oftmals langwierige Therapien überflüssig machen. Vorausgesetzt, man reagiert schnell.

Auch die Finanzierung der Trauma-Ambulanz Westholstein, ein Kooperationsprojekt von Wendepunkt und Regio Kliniken, stehe derzeit auf wackligen Beinen. „Wir finanzieren sie aus einem Flickenteppich an Spenden“, sagt Kohlschmitt. Die Finanzierung der Behandlung über das Opfer-Entschädigungsgesetz sei aber nur für jene Akutfälle gesichert, wo das Opfer selbst verletzt oder misshandelt wurde. Außer den akuten Fällen, wo das traumatische Erlebnis oder die Gewalttat gerade erst passiert sei, gebe es aber auch jene Fälle, wo die Traumatisierung eher diffus oder komplex sei, weil sie sich über Jahre angestaut habe. Das sei beispielsweise dann der Fall, wenn Kinder dauerhaft vernachlässigt und gedemütigt wurden oder erleben mussten, wie ein Elternteil über lange Zeit psychisch krank oder alkoholabhängig war.

In diesen Fällen muss die Behandlung über Spenden finanziert werden, weil die Opfer Zeugen der Tat waren oder ihr Leiden nicht einer Tat direkt zugeordnet werden konnte. „Wir hoffen“, sagt Kohlschmitt, „dass die Bundesregierung ihr Versprechen, die Finanzierung der insgesamt fünf Trauma-Ambulanzen in Schleswig-Holstein dauerhaft zu regeln, bald nachkommt.“