Engagement für den Vorlesetag so hoch wie nie. Vor allem Väter sollen häufiger mit ihren Kindern zu Büchern greifen

Heidgraben. Die kleine Bibliothek in Heidgraben, sie ist zum Bersten voll. Mehr als 50 Kinder sitzen auf dem Boden, umgeben von Bücherbergen und dicht aneinander gekuschelt. Sie alle warten auf ihren „Vorleseonkel“, der ihnen gleich eine Stunde lang eine spannende Geschichte vorlesen wird: Ernst Dieter Rossmann, seines Zeichens Bundestagsabgeordneter der SPD.

Es ist Vorlesetag. Und das in ganz Deutschland. Vor zehn Jahren ist von der Stiftung Lesen, der Wochenzeitung „Die Zeit“ und der Deutschen Bahn der bundesweite Vorlesetag ins Leben gerufen worden, damit Eltern, vor allem Väter, ihren Kindern mehr vorlesen und das Interesse an Büchern geweckt wird. Inzwischen ist der Vorlesetag das größte Vorlesefest in Deutschland. Im Kreis Pinneberg haben am Freitag etliche Erwachsene Kindern vorgelesen.

Im Tornescher Awo-Wohnzentrum wurde sogar auf Platt gelesen, in Elmshorn las die SPD-Landtagsabgeordnete Beate Raudies Astrid Lindgren vor, auf Helgoland wurden drei Lesungen veranstaltet, zwei für Kinder und eine für Senioren. Auch Elmshorns designierter Bürgermeister Volker Hatje und Karsten Tiedemann vom Kreissportverband Pinneberg zählen zu den zahllosen Vorlesern. In diesem Jahr haben sich mehr als 20.000 Bürger zum Vorlesen angemeldet, fast doppelt so viele wie vor einem Jahr. Und auch immer mehr Prominente beteiligen sich an den Lese-Aktionen.

Einige sind seit Anbeginn dabei und lesen jährlich vor. So wie Ernst Dieter Rossmann. Bei den Kindern ist er bereits als Märchenonkel bekannt. „Für mich war es keine Frage, bei der Aktion mitzumachen, als sie ins Leben gerufen wurde. Ich fand es einfach wichtig, Kindern zu helfen, einen Zugang zu Büchern zu gewinnen. Die Initiative gefiel mir über die Jahre immer mehr, darum habe ich auch immer wieder mitgemacht“, sagt Rossmann. An mehreren Orten im Kreis hat er bereits gelesen, seit fünf Jahren tritt er regelmäßig als Märchenonkel in Heidgraben auf. So auch in diesem Jahr.

Rossmann betritt den Raum mit seiner abgenutzten Ledertasche, grüßt die Kinder, setzt sich auf einen kleinen Stuhl in der Ecke des Raumes. Zwei Bücher, so erklärt er, habe er mitgebracht, für eines habe er sich letztlich entschieden. „Hilfe, die Herdmanns kommen“ ist für heute angesagt. Ein Buch, das heute genauso aktuell ist wie damals, als es erschien, findet Rossmann. Im Jahr 1972 sorgte das amerikanische Kinderbuch für Furore. Und dies nicht ohne Grund, denn es brach mit einigen Konventionen für Kinderliteratur.

„Die Herdmann-Kinder waren die schlimmsten Kinder aller Zeiten. Sie logen und klauten, rauchten Zigarren und erzählten schmutzige Witze. Sie schlugen kleine Kinder, fluchten auf ihre Lehrer, missbrauchten den Namen des Herrn und setzten den alten, verfallenen Geräteschuppen von Fred Schumacher in Brand“, liest Rossmann aus dem Buch vor.

Die Kinder sind gebannt, spitzen ihre Ohren. Eine so merkwürdig beginnende Weihnachtsgeschichte, die haben die Heidgrabener Kinder bislang noch nicht gehört. Und wohl nicht minder fasziniert als die Kinder im Jahre 1972, lauschen sie im Jahr 2013 dem Politiker, der mehrere Auszüge aus dem Buch liest. Regelmäßig bezieht er die Kinder in die Geschichte ein, indem sie Fragen beantworten sollen, was wohl als nächstes geschehen könnte.

„Es ist wichtig, dass Kinder bei so einer Aktion auch interagieren können. Es lässt sie an dem Leseerlebnis besser teilhaben, die Aufmerksamkeit wird geschult“, sagt Rossmann. Außerdem sei klassisches Vorlesen auch viel besser für Kinder, als Hörbücher zu hören. Untersuchungen hätten gezeigt, dass das direkte Erfahren des Vorlesens, die Live-Stimme im Raum und die Präsenz des Vorlesers für eine bessere Verständlichkeit, Aufmerksamkeit und Verarbeitung des vorgelesenen Stoffes sorge.

Ginge es nach Rossmann, würde es öfter Vorlesetage geben. „Bildung und Lesen sind essenziell. Wir haben hier in Deutschland sehr gute Grundvoraussetzungen, wir haben ein weltweit erstklassiges Netz an Bibliotheken und Theatern. Das müssen wir in der Breite erhalten, wenn die Kinder eine Zukunft haben sollen“, sagt Rossmann. In Berlin werde bei den Koalitionsverhandlungen gerade daran gearbeitet, Kultur zum Staatsziel zu erklären. „Das bringt den Bibliotheken nicht per se mehr Geld. Es macht es aber dem Staat, dem Land und den Kommunen schwerer, immer zuerst bei der Kultur den Rotstift anzusetzen, wenn das Geld mal knapper ist“, sagt Rossmann. Eigentlich müsse ohnehin viel mehr Geld in die Bildung fließen. „Da überall Ganztagsschulen im Kommen sind, sind Bibliotheken gerade für Schulen immer wichtiger“, sagt Rossmann. Eine Schule ohne Bibliothek sei ein Armutszeugnis.