Alfred Fichte, 75, kümmert sich um die Benachteiligten im Elmshorner Multi-Kulti-Stadtteil Hainholz.

Elmshorn. Der Bürgermeister von Hainholz hat keinen Computer und erst seit zwei Wochen ein Handy. Auf die technischen Errungenschaften des 21. Jahrhunderts kann Alfred Fichte, 75, gut verzichten. Wenn er einen Brief schreiben will, diktiert er. Wenn er telefonieren wollte, benutzte er bislang ein Festnetztelefon.

Trotzdem ist Alfred Fichte ein Netzwerker durch und durch: Kaum ein anderer kennt den Elmshorner Multi-Kulti-Stadtteil Hainholz so gut wie der gebürtige Gelsenkirchener. Und kein anderer setzt sich so vehement und mit so viel Ausdauer für Menschen ein, deren Weg oft nicht auf der Sonnenseite des Lebens verläuft.

Ein richtiger „Bürgermeister“ ist Alfred Fichte natürlich nicht. Aber viele Leute im 6500-Einwohner-Stadtteil Hainholz, südöstlich der Innenstadt, nennen ihn einfach „Bürgermeister“. Denn Alfred Fichte ist der Kümmerer im Stadtteil. Er bietet Beratungsgespräche an, erledigt Behördengänge und bietet Bürgern mit Migrationshintergrund Hilfe an.

So sehr hat sich der 75-Jährige für seinen Stadtteil engagiert, dass Bundespräsident Joachim Gauck ihn jetzt mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet hat. Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Torsten Albig hat ihm die Auszeichnung in Kiel überreicht (das Hamburger Abendblatt berichtete). „Darauf bin ich auch wirklich stolz“, sagt der Hainholzer.

1974 wurde der ehemalige Heimleiter des Hauses der Jugend in Itzehoe Kreisjugendpfleger im Kreis Pinneberg. Damals zog er mit seiner jungen Familie nach Hainholz, in eine 78-Quadratmeter-Wohnung mit einem Wohn-, einem Schlaf- und zwei Kinderzimmern, im vierten Stock rechts im Eichenkamp. Seine Frau ist mittlerweile verstorben.

„Meine beiden Jungs haben auch mit den Kindern hier gespielt und sind gut durch Hainholz gekommen“, sagt Alfred Fichte an diesem Vormittag bei einem Gang durchs Quartier. Sohn Lars Ole hat als Diplom-Ingenieur promoviert, er lehrt und forscht an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg. Sohn Kai ist Diplom-Kaufmann, ihm gehört eine Fresh-Filiale im Industriegebiet Süd in Elmshorn.

In Hainholz leben Menschen aus mehr als 50 Nationen. „Jetzt bekommen wir gerade Familien aus Syrien“, sagt Alfred Fichte. Er selbst kümmert sich besonders intensiv um eine Familie aus Afghanistan mit sechs Kleinkindern – „für die bin ich der Ersatzopa“. Heiligabend mimt der Hainholzer den „afghanischen Weihnachtsmann“ und macht Bescherung. „Ich habe den Kindern erklärt, dass der Weihnachtsmann keine religiöse Figur ist und von Coca Cola kommt“, sagt Alfred Fichte. Mit den Kindern singt er auch Weihnachtslieder, aber keine religiösen, sondern lieber „O Tannebaum“. „Das ist auch ein kleiner Beitrag zur Integration“, analysiert der Bürgermeister von Hainholz.

Wer ihn nach seinem Antrieb für sein rastloses Engagement fragt, der bekommt zu hören: „Das sind meine christliche Gesinnung und die Ideen der Sozialdemokratie. Ich bin seit 42 Jahren Mitglied in der SPD. Und ich helfe gerne Menschen, ganz besonders Kindern.“

So bleibt Alfred Fichte ein Rentner im Unruhestand. Nein, zu Hause auf dem Sofa zu hocken und irgendwelche Vormittags- oder Nachmittagsserien im Fernsehen zu glotzen, das wäre überhaupt nicht sein Ding. „Ich habe auch keine Lust, mit anderen Rentnern in der Innenstadt einen Kaffee zu trinken und zu schnacken“, sagt der Hainholzer. „Was könnten diese agilen Rentner alles machen: In ein Altersheim gehen und mit wirklich Alten sprechen, mit Kindern im Kindergarten spielen oder Migranten in der Schule vorlesen.“

In der "Burg" in Hainholz essen 35 arme Kinder zu Mittag

Staat und Ehrenamt müssten zusammenarbeiten, hat Alfred Fichte gesagt, nachdem er vom Ministerpräsidenten den Verdienstorden bekommen hat. „Frei nach John F. Kennedy habe ich gesagt, ‚fragt nicht immer, was der Staat für euch tun kann, sondern fragt Euch, was ihr für den Staat tun könnt’.“ In diesem Punkt ist der Sozialdemokrat Fichte weniger bei seiner Partei, als bei den Konservativen und Liberalen. Auch Denise Low, 48, kennt Hainholz aus dem Effeff. Mit 11 Jahren kam sie in den Stadtteil und besuchte die Grundschule Hainholz und die Kooperative Gesamtschule Elmshorn. Heute ist sie erste Vorsitzende des Vereins Frischlinge und leitet „Die Burg“, in der Kinder und Jugendliche aus sozial schwachen Familien betreut werden. Ob Hausaufgabenhilfe, Mittagessen oder Pausenbrote schmieren – die Kinder werden jeden Tag fast rund um die Uhr versorgt und betreut.

In der „Burg“ riecht es an diesem Tag nach Kartoffelpuffer. „ Zurzeit essen hier 35 Kinder zu Mittag“, sagt Denise Low. „Zwei Elternpaare, eines aus dem Libanon und ein kurdisches Paar, zahlen je 20 Euro im Monat für ihre Kinder, der Rest zahlt gar nichts.“ Ein Drittel aller betreuten Kinder sind deutsch, ihre Eltern zahlen keinen Cent.

Alfred Fichte begleitete die Frischlinge jahrelang, heute ist er Ehrenmitglied. „Die Frischlinge sind ein großer Stützpunkt für die vielen armen Kinder in Hainholz“, sagt der Rentner. In Notsituationen ist der Verein nicht nur für Kinder da. Auch Frauen, die zu Hause geschlagen werden, finden in der „Burg“ Schutz. Es stehen immer ein Bett und eine Dusche zur Verfügung.

Seit 19 Jahren arbeitet Denise Low für die Frischlinge. „Es ist multikultureller geworden“, sagt die Deutsch-Amerikanerin. „Damals gab es nur Polen und vereinzelt Türken. Jetzt sind alle hier.“

Neues Projekt: Lesetage für Kinder mit Leseschwierigkeiten

Alfred Fichtes Büro ist in der Kinderkleiderkammer des Vereins „Holsteiner helfen Holsteinern“. Die Vorsitzende, Elke Franke, ist seine Sekretärin, „aber bald soll der Alfred einen eigenen Computer bekommen“. In der Kinderkleiderkammer erhalten bedürftige Kinder und deren Eltern Kleidung, Schuhe, Spielzeug und Schulsachen. „Ich kenne ein Paar – er ist Hausmeister und sie Putzfrau. Die beiden haben keine Schulden und zahlen alle Kosten. Insgesamt haben sie aber weniger im Monat zum Leben als Hartz-IV-Empfänger. Solche Menschen dürfen auch zu uns kommen“, sagt Elke Franke.

Momentan planen sie und Alfred Fichte ein neues Projekt: Lesetage, an denen Kinder mit Leseschwierigkeiten teilnehmen können. „Die Bildung eines Menschen entsteht durch das Lesen“, sagt Alfred Fichte. „Wenn wir den Migrantenkindern, die nicht mehr richtig ihre eigene Sprache können und nicht richtig Deutsch sprechen, nicht das Lesen und Schreiben beibringen, dann entsteht bei ihnen ein Mischmasch und dann sind sie die Hartz-IV-Empfänger von morgen.“

An diesem Nachmittag zieht Alfred Fichte dann mal nicht durch sein Revier. „Ich bin ja auch noch Hausmann und muss mich um meine Sachen und meine Wohnung kümmern“, sagt der Hainholz-Kümmerer. Bedächtig fügt er hinzu: „Mein Arbeitseifer wird so lange bleiben, bis ich nicht mehr kann.“