Die sommerleichten Haseldorfer Orgelmusiken des Kantors Jörg Dehmel wandeln sich vom Geheimtipp zum Publikumsmagneten. Der Kirchenmusiker gilt als einer der Spezialisten für Alte Musik im Kreis.

Haseldorf. Die Luft ist kühl hinter den dicken Mauern von St. Gabriel. Durch die hohen Kirchenfenster schickt die Julisonne schräge Strahlen in den mittelalterlichen Altarraum, lässt den blank polierten Messingleuchter schimmern. Wenn die schwere Eichentür ins Schloss fällt, versinkt die Gegenwart. Hochsommerliche Hitzerekorde und Alltagsstress bleiben draußen. Hier ist Ruhe.

Und dann lässt Jörg Dehmel, 56, oben von der Empore aus den ersten Orgelakkord durch den Raum schweben. Note für Note erweckt Haseldorfs Kantor 350 Jahre alte Klänge zu faszinierendem Leben, zieht alle nötigen Register seines Instruments und öffnet seinen Zuhörern unten auf den schmucklosen Kirchenbänken eine andere, vormoderne Welt. Der Kirchenmusiker und Doktor der Historischen Musikwissenschaft gilt als einer der Spezialisten für Alte Musik im Kreis Pinneberg. Dieser Begriff umfasst Kompositionen des Mittelalters, der Renaissance und des Barock bis etwa 1750, dem Todesjahr Johann Sebastian Bachs.

In 29 Amtsjahren - Dehmel unterschrieb seinen ersten Arbeitsvertrag in Haseldorf bereits während seines Studiums in Hamburg - hat der zweifache Familienvater und Rom-Fan sich mit unzähligen Konzerten im Kreis Pinneberg einen Kultstatus als leidenschaftlicher Verfechter barocker Klänge in der Region erspielt. So schuf er zu Karfreitag 2013 aus Bach-Arien, Auszügen aus dessen Wohltemperiertem Klavier und eigenhändig verfassten Rezitativen eine ganz neue Lukas-Passion im Stile des barocken Großmeisters. Gemeinsam mit dem Schauspieler Michael Leye, Chef des kleinen Haseldorfer Pan-Theaters, brachte er erfolgreich das mittelalterliche Drama "Der Ackermann und der Tod" auf die Bühne, untermalte die szenische Lesung mit Cembalostücken. Und neue, ungewöhnliche Projekte stehen an: Am ersten Advent präsentiert er gemeinsam mit professionellen Solisten, dem Appen-Moorreger Chor Cantate und einem kleinen Orchester mit historischen Instrumenten eine frühbarocke Marienvesper von Amadio Freddi. Mit dem Pan-Theater erarbeitet er eine szenische Lesung mit Auszügen aus Boccaccios Mittelalter-Klassiker "Decamerone" und Kompositionen des frühbarocken Orgelrevolutionärs Frescobaldi. Premiere soll im Herbst sein.

Außer solchen Großereignissen sind es nicht zuletzt seine sommerlichen Orgelmusiken, die seit 15 Jahren eine wachsende Fangemeinde in die kleine Kirche am äußersten Rand des Kreises Pinneberg locken. Nach seinem Urlaub legt Dehmel jetzt, am Sonntag, 4. August, wieder los. Immer von 16.30 Uhr an spielt er an allen Sonntagen im August und September jeweils 30 Minuten lang Präludien und Fugen von seinem Lieblingskomponisten Johann Sebastian Bach und dem ebenfalls hoch geschätzten Dietrich Buxtehude. Der Eintritt kostet drei Euro pro Person, Kinder zahlen nichts. "Diese Reihe habe ich erfunden, weil abendfüllende Orgelkonzerte vielen Zuhörern einfach zu lang sind. Und weil man sie bestens mit einem Spaziergang im Schlosspark verbinden kann", sagt Dehmel.

Bei so viel Hingabe zu den Klängen des Barock erscheint es auf den ersten Blick überraschend, wenn er sagt: "Eigentlich finde ich die Epoche insgesamt nicht so spannend, sondern nur ihren Anfang und ihr Ende - mit Bach, mit dessen Matthäuspassion." Ihn fasziniere der gewaltige stilistische Umbruch um 1600, als sich in der geistlichen Musik zum ersten Mal ein selbstbewusstes Ich entwickelte, eine solistische Gesangsstimme statt des bis dato üblichen gemeinsamen Gotteslobs. Als Claudio Monteverdi 1610 seine bahnbrechende Marienvesper schrieb. Als die Oper erfunden wurde, als der Holländer Jan Pieterszoon Sweelinck (1562-1621) die italienische Vokalpolyphonie auf Orgel übertrug und Girolamo Frescobaldi (1583-1643) seinen ausdrucksstarken, völlig freien Stilo fantastico entwickelte. "Das war die Geburtsstunde der modernen Instrumentalmusik."

Zwischen diesen Gipfeln gehe es bergab, weil die neuen kompositorischen Ideen in schematischen Gerüsten erstarrt seien, sagt der Fachmann. "Telemann halte ich für langweilig." Ihn interessiere an der Musik der Ausdruck. Deshalb begeistere er sich für Mozart und Schumann ebenso wie für Bach und Buxtehude. Nur spielen lasse sich deren Musik auf Haseldorfs Orgel wegen deren Spezialstimmung eben nicht. "Das ist unglaublich tolle Musik, aber das klingt hier nicht. Ich habe es versucht."

Genauigkeit gepaart mit Eigensinn ist typisch für den Zahlenmenschen Dehmel, der es mit seiner Schachmannschaft in die Bundesliga schaffte, seinen Grips gewinnbringend beim Pokern einsetzte und bis heute kleine Computerprogramme, etwa einen Vokalbeltrainer für seine neue Leidenschaft Italienisch, selbst schreibt. Ursprünglich hatte der in Winterhude aufgewachsene Kantor Mathematiker werden wollen. Denn obwohl Musikalität den Dehmels offenbar in den Genen lag - seine Tante war Berufsmusikerin, der Vater musste wegen einer Kriegsverletzung auf seine Karriere als Pianist verzichten, der Großvater kannte sämtliche Wagner-Partituren auswendig - galt für den kleinen Jörg das Familienmotto: "Musik ist toll, aber kein Beruf."

Musikwissenschaft war anfangs nur ein Nebenfach für den angehenden Mathematiker. Bis zum Vordiplom. Da erkannte Dehmel, dass die Berufsaussichten - Lehramt oder Zahlenjonglage im Auftrag von Versicherungen - ihn eher abschreckten. Er tauschte Haupt- und Nebenfach, wurde zum vielleicht einzigen promovierten Musikwissenschaftler mit Mathe als Nebenfach. Sein zweites Studium als Kirchenmusiker brach er ab, er fand es sinnlos. Gegen massive Widerstände der akademischen Funktionäre meldete er sich allerdings auf Anraten seiner damaligen Cembalo-Lehrerin trotzdem zur Prüfung an - und bestand sein Diplom mit Glanz und Gloria.

Selbst nach drei Jahrzehnten an den Tasten bleibt Jörg Dehmel seiner Mission treu: "Ich möchte mit jedem Konzert Grenzen verschieben und den Menschen die Ohren öffnen für den Ausdruck und die Poesie von Musik."