Der Stader “Tidenkieker“ läuft zwischen dem 24. April und dem 18. Oktober mehrmals pro Monat zu dreistündigen Törns aus.

Stade/Haseldorf . Den ersten Seeadler entdecken wir um 15.10 Uhr. Mit der lässigen Eleganz seiner zweieinhalb Meter Flügelspannweite kreist der scheue Räuber über dem wintergelben Schilfwald des Naturschutzgebiets Haseldorfer Binnenelbe. Während die meisten anderen Gäste an Bord des "Tidenkiekers" noch konzentriert blinzelnd den eisgrauen Himmel nach dem fliegenden schwarzen Punkt absuchen, beobachtet Heinz-Otto Wiede den majestätischen Vogel längst durch sein Fernglas. "Es gibt fünf Adlerhorste in dieser Region. Deshalb hatte ich gehofft, dass wir heute vielleicht Seeadler sehen würden", sagt Wiede auf seinem Aussichtsplatz auf dem Bug des flachen Spezialschiffs. Der Rentner aus der Nähe von Stade interessiert sich für Flora und Fauna an der Elbe. Gemeinsam mit seinem Enkel Svent-Morten, 10, ist er nicht zum ersten Mal unterwegs mit dem "Tidenkieker" des Vereins für Naturerlebnisse Stade, der ab 24. April auch ab Haseldorf unterwegs ist.

Heinz-Otto Wiede ging auch schon mit dem "Vogelkieker"-Bus und der "Moorkieker"-Bahn des Vereins auf Entdeckungsreise. "Die Schwärme von Nonnengänsen, die hier Rast machen, die ganze Vogelwelt - das finde ich einfach beeindruckend." Wie aufs Stichwort fliegen wenige Meter entfernt über Juelsand auf der Haseldorfer Elbseite Dutzende dieser Zugvögel auf. "Hier ziehen jedes Jahr etwa 20.000 Nonnengänse durch", sagt der ehrenamtliche Naturführer Rüdiger Ramm, 42. "Das ist ein Fünftel der Weltpopulation." Ramm, studierter Biologe und Chemiker, erklärt den knapp 50 Mitreisenden an Bord des 2005 extra für den Verein gebauten Schiffs mit nur 50 Zentimeter Tiefgang den maritimen Mikrokosmos zwischen der größten Elbinsel Pagensand, der Haseldorfer Binnenelbe und dem Flüsschen Schwinge auf der niedersächsischen Seite des breiten Flusses. Die Zusammenhänge zwischen Ebbe und Flut, Fahrrinnenvertiefung, Verschlickung und Versalzung der Flachwassergebiete. Was hier schwimmt, fliegt, krabbelt und wächst. Und wie sich dieses Universum an eine sich verändernde Umgebung anpasst. Um dieses Thema liefern sich Naturschützer, Obstbauern und Wirtschaftspolitiker der Metropolregion hitzige Gefechte. An Bord ist davon wenig zu spüren. Ramm bleibt sachlich, liefert Fakten, beantwortet Fragen und lenkt den Blick seiner Zuhörer auf Details, die die Faszination dieses Biotops zwischen Welthafen und Brackwasser ausmachen.

Am Bishorster Sand, so benannt nach der im 17. Jahrhundert untergegangenen Elbinsel Bishorst, von deren Besiedlung nur noch der Hügel der Ziegelwurt kündet, drehen sich alle Köpfe nach Backbord. Im flachen Wasser spielen Seehunde. Wie kleine dunkle Bälle tanzen ihre runden Köpfe auf den Wellen. "Bis hierher ziehen die Seehunde. Das ist ein Novum", sagt Ramm.

Als Folge der Elbvertiefung hat sich die Salzwassergrenze Richtung Hamburg verschoben. Deshalb fühlen sich mehr und mehr Seefische dort heimisch - und in ihrem Schlepptau ihre Jäger, die Seehunde. Thomas Koyer aus Münster ist beeindruckt vom Anblick der Tiere in ihrer natürlichen Umgebung: "Das ist etwas ganz anderes als im Zoo." Und Viola Stamm aus Wischhafen, ergänzt: "Man versteht die Zusammenhänge hier an der Elbe besser, man bekommt mehr Bewusstsein für die Umwelt. Eine schöne Sache."

Drei Stunden dauert die Tour. Vom Stader Hafen geht es an diesem Nachmittag durch die Schwinge, dann quer über die Fahrrinne der Elbe auf die Schleswig-Holsteiner Seite des Flusses, entlang der Haseldorfer Marsch zur Pinnau-Mündung. Nach einem kurzen Landgang auf Pagensand fährt der "Kieker" vor dem Industriepanorama von Dow Chemical und Aluminium-Oxid Stade (AOS) entlang der Bützflether Kante zurück in die Hansestadt an der Schwinge. Auf einem Monitor in der beheizten Fahrgastkabine des "Tidenkiekers" können die Gäste die Route mitsamt aktueller Geschwindigkeit, Wassertemperatur und -tiefe verfolgen.

Ob sie Flora und Fauna gemütlich durchs Fenster oder lieber von den zugigen Logenplätzen an Bug und Heck aus betrachten wollen, steht ihnen frei. Einzige Bedingung: Schiffsführer Ernst-August Raap, 72, muss freie Sicht haben. Gemeinsam mit Gerd Rüsch, 61, lenkt Raap das Boot auf der Route zwischen Watt und Weiden. Und zwar schweigsam. Wenn die beiden reden, dann plattdeutsch. "An Bord jümmers, sonst geiht de Sprook verloren", sagt Rüsch, während er die Thermoskanne mit heißem Kaffee aufschraubt.

Gegen 16 Uhr manövriert Raap den flachen Bug routiniert auf den Strand von Pagensand, zum Landgang. Die sieben Kilometer lange Insel steht unter Naturschutz. Nur an den Stränden oder unter fachkundiger Aufsicht werden Menschen in diesem tierischen Lebensraum geduldet. Das war früher anders. "Vor 60 Jahren sind wir nach Pagensand gesegelt, haben hier beim Bauern Eier gekauft", sagt Paul Frese aus Hamburg. Für ihn ist der erste Inselbesuch seit Jahrzehnten wie eine Zeitreise in die Jugend. Bis in die 90er-Jahre bewirtschafteten Landwirte die Insel. Hier weideten Kühe, hier scharrte Geflügel nach Nahrung. Heute haben Rehe, Wildschweine und Maulwürfe den allmählich aufwachsenden Urwald für sich.

Bei der Rückfahrt quer über die Elbe schaukelt das Boot seine Besatzung noch mal gründlich durch, dann tuckert der "Tiedenkieker" wieder mit vier Knoten - das entspricht etwa acht Kilometer pro Stunde - durch die Obstbaumplantagen links und rechts der Schwinge. Von der Uferbefestigung ist jetzt allerdings nichts zu sehen. Das auflaufende Wasser hat Steine und Schilfstümpfe geschluckt.

Ab Haseldorf läuft der Stader "Tidenkieker" zwischen dem 24. April und dem 18. Oktober mehrmals pro Monat zu dreistündigen Törns unter fachkundiger Führung aus. Alle Termine und weitere Details können Interessierte unter der Internetadresse www.elbmarschenhaus.de nachlesen. Fahrkarten zu jeweils 17,50 Euro für Erwachsene und 12 Euro für Kinder von drei bis 14 Jahren gibt es beim Verein Tourismus in der Marsch, Hauptstraße 26, in Haseldorf. Tickets können auch telefonisch unter der Nummer 04129/95 54 90 und per E-Mail unter info@elbmarschenhaus.de gebucht werden.