Vom Kiez in die Hummerbude - Ladenbesitzerin tauscht St. Paulis Szene gegen Helgolands weiten Himmel

Helgoland. Tonja Tietjens Traum ist leuchtend orange gestrichen, 17 Quadratmeter klein, und er hat eine Adresse: Hummerbude 37, Hafenstraße 1008, 27498 Helgoland. Von dort aus, von der einzigen Hochseeinsel des Kreises Pinneberg und der gesamten Bundesrepublik, krempelt die gebürtige Hamburgerin und überzeugte St.-Paulianerin ihr Leben radikal um. Vom pulsierenden Kiez links und rechts der Reeperbahn, ihrer Heimat seit fast 30 Jahren, wechselt sie in eine kleine Wohnung auf dem trutzigen Eiland. "Unterm Leuchtturm, mit viel Himmel über mir und viel Wasser um mich herum", sagt sie. "Ich finde das schön."

So schön, dass sie jetzt, mit 43 Jahren, den Sprung raus aus dem vertrauten Biotop riskiert. Raus aus dem Metropol-"Dorf" St. Pauli, weg von den vielen Freunden und Bekannten, die sie auf Schritt und Tritt trifft. Sogar ihren geliebten Fußball-Club lässt sie zurück auf dem Abenteuertrip zum Roten Felsen. Denn in der Hummerbude 37 eröffnet die Ladeninhaberin am 12. April eine Filiale.

Mit dem ersten Katamaran der Saison ist sie Ende März aufgebrochen in ihr neues Leben mitten in der Nordsee. Dort warten leere Regale in der eigenhändig renovierten Hummerbude, die Ware muss eingeräumt werden. "Meinen FC-St.-Pauli-Teddy habe ich als erstes eingepackt", sagt Tonja Tietjen. Ansonsten seien ihr nur Laptop und Handy wichtig. "Ich brauche den Kontakt zu meinen Freunden." Der Abschied schmerzt die Furchtlose weniger als die Tatsache, dass sie auswanderungsbedingt die letzten Heimspiele des FC St. Pauli verpassen wird. Jedenfalls die optische Version. Dass sie trotzdem keine Flanke und kein Foul versäumen wird, dafür sorgen die ursprünglich für blinde Fußballfans erfundenen 90-Minuten-Live-Reportagen, die sie über AFM-Radio auch auf Helgoland empfangen kann.

Ihr Abschied auf Raten schlägt durchaus Wellen im Quartier. Mit ihrem kleinen Geschäft "TT hoch 3" an der Straße Beim Grünen Jäger, in dem sie seit mehr als acht Jahren erfolgreich originelle Last-Minute-Geschenkideen vom Loriot-Memory über besondere Quietsche-Entchen bis zu Designer-Taschen und Mützen für Fans des ortsansässigen Fußball-Clubs vertreibt, ist Tonja Tietjen eine Instanz auf St. Pauli.

In ihrem von der grauen Strickmütze über den wasserstoffblond gefärbten Steh-Auf-Ponyfransen bis zu den schwarzen Kniestrümpfen mit weißen Ankermotiven sorgfältig zusammengestellten Outfit in strengem Schwarz-Weiß-Grau scheint der Punkrock-Fan eigentlich nirgends besser hinzugehören als ins bunte Viertel zwischen Nobistor, Pferdemarkt und Heiligengeistfeld.

Und so ganz geht sie ja auch nicht. Ihr Laden bleibt, Mitarbeiter werden ihn fürs erste managen. Sie selbst will pendeln, drei bis fünf Wochen auf Helgoland wohnen, dann ein paar Tage in der alten Heimat vorbeischauen. "Ich werde aber im Sommer definitiv mehr auf der Insel als in Hamburg sein", sagt sie. Der Neid aller Berufstätigen ohne Meerblick wird sie begleiten.

Ihre Liebe zu der kleinen Insel mit ihren etwa 1400 Bewohnern entdeckte Tietjen eher zufällig. "Freunde haben mir einen Inseltrip empfohlen, weil man auf Helgoland einfach mal seine Ruhe haben kann. Außerdem veranstalten Freunde von mir dort regelmäßig so ein kleines Punkrock-Festival, die 'Rock 'n' Roll-Butterfahrt'." Obwohl sie nicht seefest ist und die eine Katamaranstunde zwischen Elbmündung und Düne nur mit Reisetabletten und unbeirrtem "Auf-den-Horizont-Gucken" einigermaßen übersteht, gönnte sie sich immer öfter eine Auszeit auf der Insel. Bislang allerdings nie länger als sieben Tage am Stück.

Im vergangenen Jahr stand die Entscheidung an, wirtschaftlich etwas zu verändern. Tietjen, mindestens ebenso sehr eine Freundin spontaner Entscheidungen wie coole Marktstrategin, liebäugelte mit dem Wagnis Helgoland. Redete bei ihren Besuchen viel mit Insulanern und Zugezogenen, wurde fündig: "Jetzt habe ich einen Wohnungsschlüssel und eine Hummerbude. Manchmal muss man Dinge einfach mal machen." Mit ihrer offenen, kommunikativen Art kommt sie auf der Insel gut zurecht. "Ich bin bei den Vorbereitungen für den neuen Laden sehr nett unterstützt worden, sowohl von Einheimischen als auch von Zugezogenen", sagt Tietjen. Vom Klischee des zugeknöpften Nordseemenschen habe sie jedenfalls nichts gemerkt. "Grüßen tun alle, und wenn es ein 'Moin' ist."

Angst vor Langeweile habe sie nicht. "Es kann nicht schaden, mal ein bisschen runterzukommen. Ich werde viel lesen. Außerdem kenne ich da auch schon ein paar Leute, mit denen man mal klönen oder zusammen kochen kann." Und vielleicht besteigt ja auch mal einer ihrer Hamburger Freunde den Katamaran an den Landungsbrücken und kommt auf einen Inselsprung vorbei.