Claudia Eicke-Diekmann.

Ich bin Hellseherin. Ich kann mit nahezu hundertprozentiger Sicherheit voraussagen, dass der Zug, in den ich einsteigen werde, Verspätung hat. Und zwar unabhängig, welche Strecke ich zurücklege. Hamburg-Berlin. Köln-München. Würzburg-Hamburg. Ach! So weit muss ich ja gar nicht reisen. Es reicht schon die Strecke Pinneberg Hamburg.

Es gibt nur eine Bedingung, die erfüllt sein muss, damit meine Vorhersage auch wirklich eintrifft. Es muss ein Zug der Deutschen Bahn sein. Bei Konkurrenzunternehmen funktioniert das nicht. Das musste ich lernen, nachdem ich - übermütig geworden - eine Wette abschloss, dass der Zug in Lunden, mit dem ich nach Elmshorn fahren wollte, unpünktlich sein würde. Die Nord-Ostsee-Bahn lief auf die Sekunde genau im idyllischen Dithmarscher Bahnhof ein. Hätte ich mal auf den Anschlusszug der Deutschen Bahn ab Elmshorn gewettet. Der - eingesetzt im nicht allzu fernen Neumünster - tuckerte mit 45-minütiger Verspätung an den Bahnsteig heran. Es macht mir längst keinen Spaß mehr, auf Verspätungen zu wetten. Zumal das ja auch nur der Versuch ist, den Ärger mit Sarkasmus in den Griff zu kriegen.

Ich befinde mich, seit ich am Sonnabendabend mit von mir vorhergesagter 30-minütiger Verspätung aus Bayern im Norden eintraf auf einem neuen Trip. Mal angenommen, der Zug kommt zu spät, weil ich es prophezeie. Stichwort: Selffulfilling prophecy. Das Phänomen hat ein kluger Mensch namens Robert K. Merton beschrieben. Merton demonstrierte - stark vereinfacht ausgedrückt - dass eine Prognose die Ursache dafür wird, dass diese Prognose wahr wird. Das würde bedeuten: Ich bin schuld, dass die Züge, mit den ich fahre, sich verspäten. Oh Backe! Ich entschuldige mich hiermit bei all meinen bisherigen Mitreisenden. Ab sofort werde ich an die Pünktlichkeit der Deutschen Bahn glauben. Ganz fest! Versprochen!