Die 22-jährige Schenefelderin leidet an der psychischen Erkrankung ADHS. Familie und Pädagogin prangern die Behördenwillkür an.

Schenefeld. Wer Julia kennenlernt, bemerkt es schnell. Sie ist etwas anders als die meisten jungen Erwachsenen. Empfindsamer. Introvertierter. Ängstlicher. Einfühlsamer. Pessimistisch bis zur Selbstzerstörung. "Julia stand schon in der dritten Klasse auf der Bühne und hat gerufen: Ich bringe mich um, ich kann nicht mehr", erinnert sich ihr Vater Hans-Jacob Goßler. Julia leidet an der psychischen Erkrankung ADHS, das steht für Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung. Sie hat Schwierigkeiten, sich auf eine Aufgabe zu konzentrieren. Sie kann keine Prioritäten setzen, sich ihre Zeit nicht einteilen. Das frustriert sie. Die 22-Jährige leidet unter Depressionen und Panikattacken. Ihre Familie, bei der sie noch lebt, bemerkt an ihr eine zunehmende Gereiztheit.

Julia will raus, sich eine Wohnung suchen. Sie will auf eigenen Beinen stehen. Die vielen Misserfolge ihrer Kindheit und aus der Schule möchte sie hinter sich lassen. Sie würde gern Freunde finden und einen Job, den sie meistern kann. Aber seit Monaten herrscht Stillstand in ihrem Leben. Dabei sind sich die Ärzte und beteiligten Behörden zumindest in einer Sache einig: Julia muss ganz schnell geholfen werden, denn es droht ihr eine dauerhafte seelische Behinderung.

Das ist seit Dezember 2011 klar. Passiert ist seitdem nichts. Denn in welcher Form es weitergehen soll, darüber scheiden sich die Geister. Während Julias Fachärztin für Psychiatrie und Psychologie, die Gutachterin des Arbeitsamtes sowie die pädagogische Beraterin Kristina Meyer-Estorf dringend dazu raten, dass die Schenefelderin mit professioneller Hilfe den Weg in die Eigenständigkeit geht, stellt sich die zuständige Pinneberger Kreisverwaltung quer. Hier möchte man Julia erst in den Arbeitsmarkt integrieren und ihr anschließend beim Auszug helfen. Julia hat aber schon dreimal versucht, langfristig Arbeit zu finden, unter anderem als Verkäuferin und Möbelpackerin. Ihre Krankheit, die ihr schon in der Schule große Probleme bereitete, machte es ihr schwer. Zu schwer. Sie brach jedes Mal ab. Deshalb besteht die Agentur für Arbeit darauf, dass sich Julia in therapeutische Behandlung begibt und lehnt Berufsfördernden Maßnahmen ab. Auch wenn Julia mit ihrem Lebenslauf einen Job finden würde, sie dürfte ihn nicht einmal antreten. Die Rentenkasse hat sie als erwerbsunfähig eingestuft. Mit 22 Jahren ist sie somit zwangsverrentet.

"Die Behörden werfen sich gegenseitig den Ball zu. Niemand fühlt sich zuständig. Man redet auch nicht miteinander, stimmt sich nicht ab", sagt Vater Goßler. Er kann mit dem Schriftverkehr der vergangenen Monate und den angeforderten Gutachten Aktenordner füllen.

An seiner Seite weiß Julias Vater Kristina Meyer-Estorf. Die pädagogische Beraterin hat sich auf Patienten mit AD(H)S spezialisiert. Sie ist in Hamburg tätig. Dort sind ihre Erfahrungen mit den Ämtern sehr viel besser. So etwas wie in Julias Fall hat sie noch nicht erlebt. "Es liegen alle Unterlagen vor. Julia weiß genau, was sie will. Das ist Behördenwillkür", sagt Meyer-Estorf zu den Verzögerungen und dem langwierigen Kampf um Julias Zukunft. In den vielen Ablehnungen deckt sie zahlreiche Widersprüchlichkeiten auf, in einem Fall sogar innerhalb eines Absatzes. Besonders ärgert sie dabei der Umgang mit der ADHS-Erkrankung an sich. Die bereits vor zwölf Jahren bei Julia diagnostizierte und in weiteren ärztlichen Attesten bestätigte Erkrankung wird von der Kreisverwaltung bezweifelt. Sie fordert ein weiteres Gutachten von einem Spezialisten. Das kostet wieder Zeit, die Julia laut den Ärzten nicht hat. Zu dem Fall wollte sich Marc Trampe, Sprecher der Kreisverwaltung, mit Hinweis auf das laufende Verfahren gestern nicht äußern. Goßler hat Widerspruch eingelegt. Mal wieder.