Die Hamburger Ratsmusik entdeckt Bach-Zeitgenossen Johann Christoph Schieferdecker neu. Die Premiere ist am 2. Dezember in der Drostei.

Pinneberg. Die handgeschriebenen Noten der geistlichen Kantaten von Johann Christoph Schieferdecker lassen sich noch gut entziffern. Aber spätestens bei den filigran zwischen die Zeilen gesetzten Texten, rund 300 Jahre alt und in verschnörkelten Barockbuchstaben nach der Mode der Zeit gemalt, ist Spezialistenwissen vonnöten. Selbst geübte Notenleser wie Gambistin Simone Eckert, Pinneberger Kulturpreisträgerin und Gründungsmitglied des mehrfach preisgekrönten Ensembles Hamburger Ratsmusik, geben an dieser Stelle auf. "Ich habe mir zum Übertragen eine Literaturwissenschaftlerin zur Verstärkung geholt", seufzt Eckert.

Das Übertragen der Originalliteratur von den Fotokopien, die die Archivare in Berlin und Brüssel der Expertin für Alte Musik geschickt haben, in eine zeitgemäße, bequem lesbare Fassung, gehört nicht gerade zu Eckerts Lieblingsbeschäftigungen. Note für Note muss in den Computer getippt werden, jede Zahl, jedes Häkchen - und eben auch jeder Buchstabe. Zwei Wochen eintönigster Arbeit stecken in der sorgfältigen Abschrift des Materials für ein einziges Konzert.

Doch der Aufwand lohnt sich: Auf diese Weise haben Eckert und ihre Mitstreiter schon so manches vergessene Schätzchen in internationalen Archiven aufgespürt, entstaubt und zum ersten Mal nach Jahrhunderten wieder in seiner ganzen barocken Pracht zum Klingen gebracht.

Jetzt widmen sie sich der geistlichen Vokalmusik eines Mannes, der zu den angesehensten Musikern seiner Zeit zählte: Schieferdecker (1679 bis 1732) war ab 1707 Organist an der Lübecker Marienkirche, als direkter Nachfolger des legendären Dieterich Buxtehude und als dessen Schwiegersohn. Sein größter Fauxpas: Nach Buxtehudes Tod verbrannte der ordnungsliebende Schwiegersohn sämtliche Handschriften des berühmten Organisten. Dessen Musik war ja "veraltet", man brauchte sie nicht mehr. Zum Glück hatte sich vor allem der schwedische Hof sich einen Großteil von Buxtehudes Kompositionen gesichert und ging ehrfürchtiger damit um.

Böse Zeitgenossen wie Hamburgs spitzzüngiger Musiktheoretiker Johann Mattheson behaupteten sogar, die Bedingung, die nach damaligen Maßstäben als alte Jungfer geltende Anna Margareta Buxtehude - sie war "schon" 27 - zu ehelichen, habe berühmtere Kandidaten wie Georg Friedrich Händel und Johann Sebastian Bach von der Bewerbung um die Lübecker Stelle abgehalten. "Die Musik besitzt eine hohe Qualität, sie ist schön, emotional und bildet eine ganz eigene Welt", begründet Eckert die Wahl dieser Kompositionen.

Der in Sachsen-Anhalt geborene Schieferdecker war eigentlich ein Mann der Oper. Sein Leipziger Studienfreund Reinhard Keiser hatte ihn 1702 an die Hamburger Oper am Gänsemarkt geholt. Dort wirkte Schieferdecker zunächst als Cellist und Korrepetitor. In seinen Kompositionen verzahnt er die Einflüsse aus beiden Welten, der sakralen und der weltlichen. "Er wollte den musikalischen Affekt der Oper in die Kirche bringen", sagt die Gambistin. Dazu passen auch die deutlichen stilistischen Parallelen, die die Musiker zwischen den Kantaten Schieferdeckers und seines Freundes Keiser entdeckt haben.

Viermal werden die Ratsmusiker, diesmal in siebenköpfiger Besetzung und verstärkt durch den Bassbariton Klaus Mertens, ihr Programm "Operngraben und Orgelbank" im Norden aufführen. Darunter auch in dem Gotteshaus, für dessen Akustik Schieferdecker ursprünglich komponiert hatte: Die Lübecker Marienkirche ist am 13. Mai 2012 Schauplatz des letzten Konzerts der Reihe. Einen guten Monat zuvor, am 2. April 2012, gastiert die Ratsmusik im Rahmen des Festivals "J. S. Bach in der Karwoche" in der Hamburger Katharinenkirche. Der NDR zeichnet das Konzert auf und sendet es am 22. April 2012 ab 22.05 Uhr auf NDR Kultur.

Premiere aber hat das Programm am Freitag, 2. Dezember, ab 20 Uhr in der Pinneberger Drostei, Dingstätte 23. Das liegt nicht zuletzt daran, dass diese Aufführung ohne die Anschubfinanzierung des Kreises Pinneberg und örtlicher Sponsoren wie der GAB, der Sparkasse Südholstein und Hass + Hatje nicht zustande gekommen wäre. Karten zu jeweils 15 Euro, ermäßigt zehn Euro, gibt es in der Drostei und telefonisch unter der Nummer 04101/210 30.