Bank-Geheimnis: Die Chorknaben Uetersen sind Talentschmiede und Schule fürs Leben. Treffen mit Mentor und Schüler

Uetersen. Aus der Christuskirche in Uetersen klingen klare Knabenstimmen in die Abendstille hinaus. Drinnen proben die Chorknaben Uetersen. Chorleiter Hans-Joachim Lustig begleitet sie am Klavier, unterbricht immer wieder, lässt Passagen wiederholen. Draußen vor dem Fenster des Probenraumes sitzen Julian Clement, 17, und Harald Stockfleth, 51, auf einer Bank und lauschen dem Gesang. Kein unsauberer Ton - für den Laien kaum hörbar - bleibt ihnen verborgen. Der eine singt seit zehn Jahren bei den Chorknaben, der andere hat es ihm beigebracht und gehört schon seit vier Jahrzehnten zum Chor.

Einmal im Jahr, Ende Januar, geht Harald Stockfleth auf Rundreise durch die Grundschulen Uetersens und lässt Erstklässler "Bruder Jakob" singen. Diejenigen mit Potenzial lädt er ein zum Vorsingen, im Schnitt sind das 80 bis 90 Jungs. Am Ende einer siebenwöchigen Probezeit bleiben 20 bei den Chorknaben. So hat Stockfleth auch Julian Clement entdeckt. Schnell kristallisierte sich das Talent heraus. 2007, damals noch Sopran, gewinnt Julian den Landeswettbewerb bei "Jugend musiziert". Mittlerweile singt der Gymnasiast aus Heist auch im Lübecker Kammerchor "I Vokalisti", den Chorleiter Lustig ebenfalls leitet. "Die sind Championsleague", sagt Stockfleth neidlos. "Wir sind Zweite Bundesliga."

In Julian entdeckt Stockfleth viel von sich selbst. "Julian ist sehr ambitioniert." Stockfleth selbst hat von 1971 bis 1981 bei den Chorknaben Uetersen gesungen, Seite an Seite mit Lustig. Seit 1982 betreut er die Stimmbildung. "Ich bin der Chor-Dino", sagt er lachend. Kaum zu glauben, wie die Zeit rast. Stockfleth erinnert sich gern zurück: Wie er als 17-Jähriger nach dem Realschulabschluss bei einer Krankenkasse lernte und in dieser Zeit von Stimmbildner Peter Neff entdeckt wurde. "Der redete solange auf mich ein, bis ich bei seinem Professor Claus Ocker an der Musikhochschule Hamburg vorsang." Der war so begeistert, dass er ihn kostenlos unterrichtete. Der Stein kam ins Rollen. 1992, nach seinem Studium an der Hamburger Musikhochschule und einem einjährigen Engagement beim NDR-Rundfunkchor, machte sich Stockfleth mit der Musikschule in Uetersen selbstständig.

Im Kreis fühlt er sich verwurzelt. Ein Gastdirigent vom Bayerischen Rundfunkchor wollte ihn einmal abwerben - für den gebürtigen Pinneberger utopisch. Nach München ziehen? Das kam für die "Heimpflanze" nicht in Frage. Er hat die Entscheidung nie bereut: "Einen Chor und eine Musikschule aufzubauen sind Aufgaben, von denen man normalerweise nur träumen kann." Der Knabenchor sei seine Familie, sagt er und fasst seine Gefühle in einem Wort zusammen: "Bombe-Traum."

Atemtechnik, eine lockere Hals- und Kiefermuskulatur, Vokalausgleich - Aufgaben eines Stimmbildners. Harald Stockfleths Einsatz geht weiter: "Wir vermitteln soziale Kompetenz." Der Chor als Schule fürs Leben. Es gibt sehr wenige Formationen, wo Männer und Jugendliche etwas gemeinsam auf die Beine stellen, sagt er. Im Sport sind die Teams in Altersgruppen eingeteilt. "Bei uns fliegt ein Neunjähriger mit einem 21-Jährigen nach Amerika, um dort Konzerte zu geben." Stockfleth selbst hat es früher sehr genossen, von den Größeren "im besten Sinne erzogen" zu werden. Später konnte er seine positiven Erfahrungen an die Neulinge weitergeben. Das Prinzip funktioniert über die Jahre hinweg, "wie ein Staffelstabrennen." Die Gruppe trägt sich selbst. Auch Julian betreut mittlerweile auf Chorfreizeiten die Kleinen, für ihn ein Prozess der eigenen Reifung: "Ich übernehme Verantwortung, schaue, dass die Kinder rechtzeitig ins Bett kommen und es ihnen gut geht." Ohne die Hilfe der Männerstimmen wäre eine Fahrt mit 95 Chorknaben ins Schloss Noer im Dänischen Wohld wie vor zwei Jahren gar nicht machbar.

Auch Werte wie Disziplin und fokussiertes Arbeiten lernen die Chorknaben. "Wir sind kein Kinderliederverein", sagt Stockfleth. Hier wird Chormusik gesungen, die eigentlich für Erwachsene komponiert wurde. So stellt Elias, Mendelssohns Oratorium, die jungen Sänger stimmlich vor enorme Anforderungen. Wer mithalten will, muss regelmäßig proben. "Wir produzieren hier keine Singmaschinen, aber wenn wir uns ein Ziel setzen, wollen wir auch gewinnen", sagt Stockfleth.

Ein zeitintensives Hobby. Manchmal werden andere Dinge wichtiger, Fußball zum Beispiel oder Mädchen. Für Julian stellte sich die Frage des Weitermachens nie: "Der Chor steht im Mittelpunkt meiner Freizeitaktivitäten." Der Schulsprecher am Ludwig-Meyn-Gymnasium spielt seit Jahren Cello und Klavier. Zurzeit beschäftigt er sich noch intensiver mit Instrumenten, um zum Musikstudium zugelassen zu werden. Und dann irgendwann mal Stockfleths Nachfolge antreten? Julian will es nicht ausschließen. Die Frage der Nachfolge steht auch für Stockfleth im Raum. "Aber neun Jahre mache ich noch", sagt der 51-Jährige.

Zudem sei das Chorangebot so attraktiv, dass fast alle auch während der Pubertät gehalten werden können. "Jungs im Stimmbruch können im Chorheim Billard oder Schach spielen", sagt Stockfleth. Sie genießen die probenfreie Zeit und begleiten Chorfahrten als Betreuer. So bleiben sie dem Chor verbunden. Anderen Chören glückt das nicht immer. Der Lübecker Knabenchor musste sich für seine Konzertreise ins Baltikum Männerstimmen der Chorknaben Uetersen ausleihen.

Einmal bei den Männerstimmen mitsingen, das wäre schon was, dachte sich Julian schon als Kind und ließ sich auch vom Stimmbruch nicht aufhalten. Der Übergang von Sopran in Bariton und Bass ging reibungslos. "Mit den Jahren rutschen immer mehr Jungs nahtlos in die Männerstimmen", sagt Stockfleth. Mit 80 Chorknaben eine stimmliche Einheit zu erarbeiten, stellt ihn dennoch immer wieder vor Herausforderungen. Gerade den Jüngsten fehlt noch das Gehör für die Feinheiten. Dominante Stimmen versucht Stockfleth zu integrieren: Solokonzert unerwünscht.