Mediziner muss sich vor Gericht in Pinneberg wegen fahrlässiger Tötung verantworten

Quickborn/Pinneberg. Die Entscheidung, die Dr. Rudolf B. an diesem 14. Juni 2008 traf, sollte verhängnisvoll sein. Der Quickborner Arzt, der an jenem Wochenende vor zwei Jahren den ärztlichen Notdienst absolvierte, suchte seine siebte Patientin an diesem Tag nicht auf. Er rief lediglich Lieselotte G.-J. telefonisch zurück, die über Erbrechen, Übelkeit und starken Durchfall klagte, und riet ihr, viel zu trinken, eine Banane zu essen sowie Elektrolyte und ein Magen-Darm-Mittel einzunehmen. Doch am nächsten Morgen war die 85 Jahre alte Frau tot. Die Quickbornerin starb an den Folgen eines Darmverschlusses. Nun muss sich der 61 Jahre alte Mediziner vor dem Amtsgericht Pinneberg wegen des Vorwurfs der fahrlässigen Tötung verantworten.

Sechs Stunden verhandelte Strafrichterin Maren Thaysen den Fall im großen Saal an der Moltkestraße. Und der Prozess ist noch nicht zu Ende. Er wird am Montag, 20. September, fortgesetzt. Aber es zeichnet sich ab, dass der angeklagte Arzt wohl eine Mitschuld trägt an dem Tod der alten Dame. Der Sachverständige Dr. Franz-Georg Rolfes, Chefarzt im Krankenhaus Preetz, kommt in seinem Gutachten zu dem Schluss: "Die Patientin wäre zu retten gewesen". Die Indikation Durchfall und Erbrechen mache "bei jedem älteren Patienten den Arztbesuch zwingend erforderlich", stellte er fest. Zudem habe Dr. B. "die Grundsätze der Anamnese" verletzt, indem er die Patientin nicht nach ihrer Vorerkrankung und ihrer Medikation befragt habe. Das wäre "allein schon aus Selbstschutz" notwendig gewesen, "um nicht etwas zu übersehen", sagte der Gerichtsgutachter. Die Angaben, die er dann von Lieselotte G.-J. erhalten hätte, nämlich dass sie gerade erst am Bauch operiert worden war und das Blutverdünnungsmittel Marcumar einnahm, wäre ein deutliches "Alarmzeichen" gewesen. Auch dass ein weiterer Kontrollanruf bei der Patientin unbeantwortet blieb, hätte Dr. B. unbedingt warnen müssen, befand Dr. Rolfes. Es hätte bedeuten können, dass ihr Herz-Kreislauf bereits versagte.

Vor allem eine Frage beschäftigt das Gericht: Wusste der Angeklagte von der dunklen Farbe des Stuhlgangs der Patientin. Dr. B. verneinte dies. "Schwarzen Stuhl" habe weder die Disponentin der Einsatzzentrale noch die später Verstorbene erwähnt, behauptete er. Das wäre für ihn "ein Anlass zur Besorgnis" gewesen, weil es ein Anzeichen für Blut im Stuhl sei, verteidigte sich Dr. B.. Doch die Aussagen einer Zeugin, ihr angefertigtes Protokoll und die Tonbandaufzeichnung ihres Gesprächs mit dem Angeklagten sagen etwas anderes aus. Danach hat die Einsatzzentrale des Notdienstes den Arzt sehr wohl darüber informiert. So fragte die Disponentin den Arzt am Handy, was die durstige Patientin denn trinken könne, "weil der Durchfall ganz schwarz ist". Dr. B. konnte sich nicht daran erinnern, als er jetzt die Aufzeichnung vor Gericht hörte.

Ihm täte der tragische Tod von Lieselotte G.-J. sehr leid, bedauerte der Angeklagte. Aber es sei an diesem Sonnabend so viel los gewesen, dass er die Patientin nicht habe besuchen können. Als er um 10.06 Uhr, zwei Stunden nach Dienstbeginn, von der Einsatzzentrale von der schweren Durchfallerkrankung der 85-Jährigen erfuhr, die schon seit Tagen anhielt, entfuhr es dem offenbar gestressten Arzt: "Sie müssen nicht alles annehmen." Amtsanwalt Kai Nielsen tadelte diese Aussage: "Sie haben die Zeugin B. ziemlich allein gelassen."

Allein fühlte sich auch die Nachbarin Margrit Müller, die mit der Toten befreundet war und am 14. Juni den Notdienst verständigte, die Medikamente besorgte und abends noch bis 21 Uhr bei der Nachbarin nach dem Rechten sah. Lieselotte G.-J. sei die ganze Zeit davon ausgegangen, dass der Arzt sie noch aufsuchen werde. Dies habe er ihr im Telefonat versprochen. Eine handschriftliche Notiz avisierte diesen Besuch auf "15 - 16 Uhr".

In der Nacht verschlimmerte sich der Zustand der alten Frau, die von ihrer Nachbarin am Sonntag um 9 Uhr tot in ihrer Wohnung gefunden wurde.

Wenn der Arzt Lieselotte G.-J. untersucht hätte, hätte er sofort festgestellt, dass sie an einem Darmverschluss leidet und sie umgehend ins Krankenhaus einweisen müssen, sagte Gutachter Rolfes. Mit "großer Wahrscheinlichkeit - zu 90 Prozent" - hätte sie dann den nächsten Tag überlebt, dank der "Maximal-Medizin" bei einer OP, schätzte der Gutachter. Ob die Frau aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen auch einen Monat später noch am Leben gewesen wäre, beantworte er mit einer "50:50-Chance".