Oberdeichgraf Thies Kleinwort überwacht die Pflege der Dämme in der Seestermüher Marsch. Das Abendblatt hat ihn bei seiner Tour begleitet.

Seestermühe. Es ist früher Nachmittag, der Himmel bleigrau, ein leichter Schneeregen rundet das ungemütliche Wetter ab. Bei jedem Schritt quapscht der aufgeweichte Boden. Thies Kleinwort geht an der Pinnau entlang. Ausgerüstet mit Gummistiefeln, Schirmmütze und Regenjacke sucht er den Deich mit geschultem Blick nach Schäden ab.

"Ich schaue, ob es Trittschäden gibt und ob die Grasnarbe in Ordnung ist", sagt der Oberdeichgraf. Er ist für den Deich in der Seestermüher Marsch zuständig und seit sieben Jahren im Amt. Alle fünf Jahre wird ein neuer Oberdeichgraf gewählt. "So wirklich pflegen müssen die Deichgrafen den Deich gar nicht", sagt der Neuendeicher. "Das übernehmen die Schäfer." Deren Schafe treten den Deich fest und sorgen für eine schöne Grasnarbe. "Die Schäfer müssen nur Disteln und Brennnesseln entfernen." Heute sind keine Schafe auf dem Deich, dafür ist der Boden zu weich, sie würden ihn kaputt treten.

Kleinwort ist für den Deich zwischen Krückau und Pinnau zuständig

Zweimal im Jahr gehen die Oberdeichgrafen die 19 Kilometer Deich zwischen Uetersen und Elmshorn ab und überprüfen den Zustand. Im Falle einer Flutkatastrophe ist Kleinwort für die 5,9 Kilometer Deich zwischen Krückau und Pinnau zuständig und koordiniert, unterstützt von Feuerwehr und Katastrophenstab, die Deichverteidigung.

Mit gezielten Schritten steigt der 60-Jährige hinunter und schaut zufrieden auf "seinen" Deich. "Die zweite Deichlinie ist die Absicherung, falls der Landesschutzdeich, der direkt an der Elbe verläuft, bricht." Das hält Kleinwort aber für unwahrscheinlich. "Eine Ursache für einen Deichbruch könnten abgebrochene Pappeln von Pagensand sein, die als Treibgut gegen den Deich schlagen, aber auch führerlose Schiffe stellen eine Gefahr da." Sei die 60- bis 100 Zentimeter dicke Kleieschicht des Deiches zerstört, könne der Sandkern den Fluten nicht standhalten. "Aber selbst wenn der Landesschutzdeich bricht, haben wir immer noch die zweite Deichlinie. Und die hält", sagt Kleinwort überzeugt. Probleme könnten auftreten, wenn die Sperrwerke nicht rechtzeitig geschlossen werden können. "Dann laufen die Städte voll", sagt er. "In Uetersen und Elmshorn kriegen sie dann nasse Füße." Die zweite Deichreihe sei wie eine Lebensversicherung.

Genauso routiniert wie er abstieg, klettert Thies Kleinwort den Deich wieder hinauf. "Viel Wasser heute", sagt er. Dann erzählt der Oberdeichgraf: "Bis 1969 war das hier die erste Deichlinie. Erst dann wurde der Landesschutzdeich gebaut. 1962 haben wir hier in Neuendeich gar nichts von der Flut mitbekommen. Erst als wir am nächsten Tag das Wasser gesehen haben, wurde uns klar was passiert war." Um auf den Ernstfall vorbereitet zu sein, finden regelmäßig Übungen statt. "Wenn ein Deich gebrochen ist, nützt es nichts, Sandsäcke ins Wasser zu werfen, die werden sofort weggespült. Es gilt dann die zweite Deichlinie zu verteidigen. Deshalb üben wir mit den Feuerwehren das Verschließen der Deichdurchfahrten", sagt der Experte.

Der Oberdeichgraf ist nicht täglich auf dem Deich, dazu fehlt ihm die Zeit

Kleinwort zieht sich die Schirmmütze in die Stirn. Er sieht zufrieden aus, hat den Deich für sicher und gut gepflegt befunden. "Ich bin nicht täglich auf dem Deich, dafür fehlt mir die Zeit", sagt er. "Aber die Menschen, die direkt hinterm Deich wohnen, wissen, worauf es ankommt und jeder guckt ein bisschen. Wenn jemandem etwas auffällt, sagt er Bescheid." Es sei ohnehin wichtig, dass sich in einer kleinen Gemeinde wie Neuendeich jeder ein wenig für die Allgemeinheit engagiert, sagt er. So ist auch das Amt des Oberdeichgrafen eine ehrenamtliche Position.

Die Probleme, mit denen ein Deichgraf zu kämpfen hat, halten sich in Grenzen. "Wir bessern eigentlich bloß die Trittschäden aus, die Pflege übernehmen die Schäfer und die Schafe." Am Landesschutzdeich gibt es einen Maulwurfsjäger, der darauf achtet, dass die Kleieschicht nicht untergraben wird. Die Maulfwurfjagd ist aber nur dort erlaubt. "Da geht Natur- vor Katastrophenschutz." Der Landesschutzdeich sei an einigen Stellen zwar noch zu niedrig, werde aber bis 2015/2016 überall auf 8,50 Meter erhöht, sagt er.

"So wie der Zustand der Deiche jetzt ist, halten die noch 30 bis 50 Jahre, wir brauchen uns keine Sorgen zu machen", sagt der Oberdeichgraf und wirft einen letzten Blick auf die Lebensversicherung der Marschbewohner. "Die Deiche können ohne Weiteres erhöht werden, das ist auch landesweit in Arbeit. Das ist keine technische Frage, sondern eine finanzielle." Die Instandhaltung der zweiten Deichlinie kostet im Jahr etwa 25 000 Euro. Dafür aufkommen müssen die Anwohner. Der Landesschutzdeich wird vom Land Schleswig-Holstein finanziert. Dass es erneut zu einer ähnlich schwierigen Situation kommen könnte wie 1962, schließt Kleinwort aus. "Die Kommunikation funktioniert viel besser als 1962, die Vorhersagen werden ständig präzisiert und es gibt ausgefeilte Evakuierungspläne." So wurden in der Haseldorfer und Seestermüher Marsch Fluthaltestellen eingerichtet, an denen sich die Menschen im Ernstfall sammeln sollen, um evakuiert zu werden.

Thies Kleinwort ist sich sicher, dass die Deiche die Menschen vor einer Flut wie 1962 schützen werden. "Die Marschen sind sicher, die Deiche halten." Er dreht dem Deich den Rücken zu und macht sich durch den matschigen Boden auf den Weg nach Hause. Das ist gar nicht weit weg vom Deich.

Morgen lesen Sie in unserer Serie, wie das Hinterland von der Sturmflut 1962 betroffen war.