Eine Zeugenaussage soll verhindern, dass Opfer der Pinneberger Arbeiterwohlfahrt noch einmal “als Lügner hingestellt werden“.

Pinneberg. Es sieht so aus, als müsse sich Horst Hager (77) endgültig seiner Vergangenheit als Leiter der Pinneberger Awo-Heime stellen: Jetzt hat sich ein Mann zu Wort gemeldet, der Hager schwer belastet. Er wirft dem ehemaligen Chef der Kinderheime Haidkamp und Aschhooptwiete vor allem vor, vom Missbrauch der Jungen im Heim durch mindestens zwei Erzieher gewusst und nichts dagegen unternommen zu haben. Im Gegenteil: Hager, der sich in der Öffentlichkeit als SPD-Politiker seit den 60er-Jahren stets als Anwalt der Kinder präsentierte, habe die Täter geschützt und die Opfer bestraft. Das erzählte Joachim Schmeißer zunächst der Pinneberger Zeitung und gestern im Zuge von NDR-Dreharbeiten über die ehemaligen Awo-Heime dem TV-Team.

Joachim Schmeißer will mit seiner Aussage verhindern, dass die Opfer der Pinneberger Awo-Heimerziehung nach so vielen Jahren noch einmal "als Lügner hingestellt werden". Der heute 56-Jährige lebte ab 1963 zusammen mit seinem Zwillingsbruder zunächst im von den Heimkindern so getauften "Haus der toten Seelen" am Haidkamp und ab 1969 bis Ende 1970 im Awo-Jugendhilfezentrum Aschhooptwiete.

Schmeißer sagt: "Ja, Prügel und seelische Gewalt waren unter Hager Alltag. Auch ich habe seine Faustschläge in den Magen zu spüren bekommen." Die tätlichen Übergriffe Hagers sind für Schmeißer "Nebensache". Für ihn ist es wichtiger, dass die Öffentlichkeit erfährt: "Horst Hager wusste, dass Erzieher Heinz R. und teilweise parallel der Erzieher Peter B., den wir Pater B. nannten, Kinder missbrauchten. Heinz R. hat es bei mir versucht und Pater B. hat mich als gerade 13-Jährigen ins Pornokino geschleppt und gesagt, dass er so was gerne auch mit mir machen wolle. Ich war groß und stark. Ich konnte mich wehren. Andere nicht. Wagte ein Junge, darüber zu sprechen, wurde er bestraft."

Dann erzählt Joachim Schmeißer über seinen Freund Eckhard. "Er wurde regelmäßig von Heinz R. missbraucht." Im Frühjahr 1966 habe der Freund es nicht mehr ausgehalten und in seiner Verzweiflung beschlossen, sich dem Heimleiter anzuvertrauen. "Eckhard bat mich, den Missbrauch zu bezeugen. Also habe ich mich abends im Badezimmer versteckt. Hinter einer Stellwand saß er mit Heinz R. in der Badewanne und musste ihn befriedigen. Ich habe das gesehen."

Der Freund habe sich wenig später Heimleiter Hager offenbart. "Ich hatte ihn gewarnt. Wir hatten doch gelernt: Für Widerworte gibt es Schläge." Es sei viel schlimmer gekommen. Wenige Tage später sei der Freund in ein geschlossenes Erziehungsheim nach Hamburg verlegt worden. "Ich habe Hager gefragt, was mit Eckhard passiert sei. Der antwortete: Den wirst du nicht wieder sehen." Eckhard sei die Flucht aus dem Hamburger Heim gelungen. Beim Sprung aus dem Fenster habe er sich ein Bein gebrochen. "Er kam zurück zum Haidkamp. Ich habe ihn sechs Wochen in einem Schuppen versteckt. Als er wieder einigermaßen laufen konnte, ist er endgültig abgehauen."

Die Jungen im Heim mussten bis 1967 weiter mit Heinz R. leben. "Wir waren im Zeltlager, da ist Heinz R. auf frischer Tat erwischt worden. Ich musste Heinz R. zum Bus bringen. Er hat rumgejammert, weil er entlassen worden sei." Diese Erinnerung deckt sich mit der Personalakte des Erziehers bei der Awo Schleswig-Holstein. Daraus geht hervor, dass Heinz R. 1967 fristlos entlassen wurde.

Joachim Schmeißer ist seinen Weg durchs Leben gegangen. Mit 15 Jahren begann er eine Ausbildung zum Feinmechaniker in Schenefeld. "Ich war in der IG-Metall und Lehrlingssprecher und habe mich mit dem Betriebsleiter angelegt." Der habe sich bei Hager beschwert. "Anstatt sich für mich einzusetzen, hat Hager der Auflösung des Lehrvertrages zugestimmt und mich mit den Worten 'Ich will Dich hier nie wieder sehen' aus dem Heim gejagt. Ich war erst 17 und konnte nichts dagegen tun." Schmeißer fand ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft und finanzierte die Miete über Jobs, bis er in Borstel-Hohenraden eine neue Lehrstelle fand. "1974 hatte ich den Gesellenbrief in der Hand."

Wie die meisten Opfer der Pinneberger Awo-Heimerziehung fragt sich Schmeißer bis heute: Warum konnte der Heimleiter walten, wie er wollte? Warum haben die Jugendämter und die Awo als Kontrollinstanzen versagt? "Hager hat viele Menschen zerstört. Mich hat er nicht klein gekriegt", sagt Schmeißer laut und stolz, aber dann wird seine Stimme leise. "Wir waren doch nur kleine Jungs. Einer hieß Nikolai. Er hatte es besonders schwer, weil er oft verprügelt wurde. Nikolai sei 1965 zur Polizei gegangen, um Hager anzuzeigen. "Wir haben beobachtet, wie Hager ihn zurückschleppte. Nikolai ging als Lügner drei Tage in den Kellerknast. So war das damals: Alle habe dem Politiker geglaubt. Wir waren die Lügner." Aus dem System Hager habe es kein Entrinnen gegeben.