Wie die einst überzeugte Junge Pionierin Maritta Henke mit dem System brach und 1984 den Weg von Dresden bis nach Wedel fand.

Wedel. Vom optimistischen Beginn als "Junge Pionierin" Ende der 50er-Jahre über die entnervenden Seiten des Sozialismus bis zum Bruch mit dem System, dem Ausreiseantrag 1984 und die Schikanen des Regimes bis zur Reise nach Wedel - Maritta Henke hat viel mitgemacht in der vor 20 Jahren untergegangenen DDR und wird am 3. Oktober im "Erzählcafé" (siehe Kasten unten) ihre Erlebnisse schildern.

"Ende der 70er-Jahre hatten wir noch gedacht, es kann alles nicht so schlimm sein, dass wir unsere Heimat verlassen", erzählt die Mathematikerin, die gemeinsam mit ihrem Mann Rainer und zwei Kindern in Dresden lebte - "im ,Tal der Ahnungslosen', weil wir kein West-Fernsehen empfangen konnten". Doch auch wenn sie der Propaganda von Eduard Schnitzler & Co. ausgesetzt waren, die ihre Zuschauer mit Horror-Geschichten über Kinderfeindlichkeit, Hunger und Arbeitslosigkeit in der "BRD" dauerberieselten, wurden die beiden stutzig, wenn Verwandtenbesuch aus dem Westen kam. "Unsere Verwandten sahen wohl und ausgeglichen aus - das konnte nicht alles schlecht sein", sagte sie. Informationen aus erster Hand taten ihr Übriges.

Hinzu kam die Tristesse des täglichen Lebens, die besonders nach dem Umzug in einen Plattenbau am Rande Dresdens zu Tage trat. "Wir mussten da zwei Jahre wie auf einer Baustelle leben. Die Häuser waren zwar aus dem Boden gestampft, doch sie standen an keiner festen Straße. Der einzige befestigte Weg war eine Gehwegplatte breit. Statt auf Grünanlagen schauten wir auf Dreck und Staub. In unserem Haus wohnten zwölf Familien mit 18 Kindern - aber kein Spielplatz oder nur eine Wiese weit und breit. Und in dem Quartier gab es für 10 000 Einwohner nur eine Kaufhalle." Selbst für manche Produkte des täglichen Bedarfs ging Maritta Henke in den Intershop, wo sie mit Devisen-Geschenken der Verwandten Westwaren einkaufen konnte. Sie erinnert sich: "Zwischen dem Waschmittel, das man dort bekam, und dem aus DDR-Produktion gab es himmelweite Qualitäts-Unterschiede."

Doch als besonders belastend empfand sie die Enge der Gesellschaft. "Seitdem ich als Jugendliche Mitglied der FDJ war, verspürte ich mehr und mehr den unangenehmen Zwang", sagt sie. "Die Realität stimmte nicht mit dem Anspruch überein, den Partei und Staat verkündeten. Da gab es immer noch Banner mit Slogans wie ,Der Sozialismus siegt', als es überall rückwärts ging und die Häuser verfielen."

So stellte das Ehepaar Henke für sich und die Kinder im Juni 1984 den ersten Ausreiseantrag. "Für uns war oberstes Prinzip, keine Angriffsflächen zu bieten, weil wir Angst hatten, dass die Staatsorgane uns die Kinder wegnehmen", sagt sie. Ganz formal wurde der Antrag mit der "internationalen Konvention vom 16. Dezember 1966 über zivile und politische Rechte" begründet, die die DDR im "Gesetzblatt Teil II Nr. 6 vom 26.2.74 in Artikel 12, Abschnitt 2" veröffentlicht und somit anerkannt hatte: "Es steht jedem frei, jedes Land, auch sein eigenes, zu verlassen."

Bürokraten aus dem Innenministerium versuchten zunächst, mit Ignoranz und Beleidigungen die Henkes vom Vorhaben abzubringen. Auch Schikane am Arbeitsplatz war ein Mittel. "Nach Stellung des Antrages durfte ich den Rechnerraum nicht mehr betreten", sagt die Mathematikerin, die daraufhin kündigte. Woche für Woche suchten Henkes ihren Sachbearbeiter im Ministerium auf. "Jeden Dienstag fragten wir, wie es um den Antrag steht." Als eine mündliche Ablehnung kam, wurde noch ein Antrag gestellt. Und noch einer und noch einer - Henkes blieben hartnäckig, gaben sich keine Blöße, die es der Staatsmacht erlaubte, sie in eine kriminelle Ecke zu stellen.

Nach rund einem Jahr zahlte sich die konsequente Haltung aus: Familie Henke durfte ausreisen, von heut' auf morgen, am 17. Juni - im Westen damals "Tag der Deutschen Einheit" nach dem Tag des DDR-Volksaufstandes benannt. Übers Aufnahmelager Gießen kam die Familie nach Wedel, wo sie zunächst von einer Freundin aufgenommen wurde, die bereits zuvor die DDR verlassen hatte. Denkt Maritta Henke heute an den SED-Staat, überkommt sie ein unbehagliches Gefühl: "Auch wenn ich sehe, wie manche Leute die Vergangenheit zu relativieren versuchen." Ihr Mann fand rasch Arbeit, die Kinder fühlten sich in Kindergarten und Schule sofort wohl. "Und es gab so tolle Kinderspielplätze, und die Mitarbeiter in den Behörden waren so nett und hilfsbereit", sagt Maritta Henke. Sie engagiert sich jetzt stark ehrenamtlich: "Ich bin dankbar, ein bisschen was zurückgeben zu können. Wedel ist meine Heimat geworden."

Lesen Sie am Freitag Teil 2: Warum ein begabter Zeichner nicht studieren sollte, von der Stasi umworben wurde und der DDR den Rücken kehrte.