Gemeinsam aktiv: Der Verein Selenogradsk bringt in Barmstedt behinderte und nicht behinderte Kinder aus Deutschland und Russland zusammen.

Barmstedt. Anna nimmt genau Maß, schneidet mit der Schere die dicken braunen Wollfäden auf dem Kopf der großen Puppe gerade. Die etwa einen Meter hohe Figur aus Pappmaschee stellt ein dunkelhäutiges Kind dar, das zu einer ganz speziellen Menschengruppe gehört. Dazu zählen ein Rollstuhlfahrer, ein Brillenträger, drei offensichtlich Nichtbehinderte und ein weiteres Kind mit dem Schwerpunkt geistige Entwicklung.

Die Gruppe hält sich an den Händen rund um eine bunte Weltkugel, ebenfalls aus Pappmaschee - ein beeindruckendes Kunstwerk, das in den vergangenen Tagen in der Jugendbildungsstätte Barmstedt als Projekt des Vereins Selenogradsk in Kooperation mit der Appener Heideweg-Schule, dem Förderzentrum mit dem Schwerpunkt geistige Entwicklung, entstanden ist.

Unter dem Motto "Wir erproben unsere künstlerischen Fähigkeiten" wurde die Jugendbildungsstätte zum Forum für russische und deutsche Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderungen, die unter Anleitung von Betreuern das Thema "Wir sind alle gleich und doch anders" künstlerisch umsetzten. Außerdem wurden von allen Teilnehmern Gesichtsabdrücke aus Gips angefertigt - vor allem für die russische Gruppe ein besonderes Erlebnis, da dort noch nie mit dem Material gearbeitet wurde.

Für einige der russischen Kinder war es das erste Mal, dass sie ihre Heimat Selenogradsk (ehemals Cranz) in der russischen Partnerregion des Kreises Pinneberg, den Rayon Selenogradsk, verlassen haben. Dass die Menschen in Selenogradsk mittlerweile wesentlich offener mit behinderten Kindern umgehen, ist Gabi und Gerhard Kascha vom Verein Selenogradsk zu verdanken. Sie lernten Mitte der 90er-Jahre in Selenogradsk Vera Maltzeva kennen, die selbst ein behindertes Kind hat. Sie hätten sich damals gewundert, dass man auf den Straßen nie behinderte Kinder sah, so als ob es sie nicht gebe. Wie früher einst auch in Deutschland wurden behinderte Kinder nicht oder nur selten in der Öffentlichkeit gezeigt. Gabi Kascha, die selbst an der Heideweg-Schule in Appen arbeitet, rief eine Elterninitiative ins Leben, die vom Verein unterstützt wurde.

Heute leitet Vera Maltseva in Selenogradsk die Förderstätte "Kleiner Fluss" für behinderte Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. Angefangen haben sie in Räumlichkeiten von 26 Quadratmetern Größe, mittlerweile verfügen sie über eine Fläche von rund 100 Quadratmetern. 13 Jugendliche aus der Förderstätte gingen nun mit auf Reise nach Deutschland. "Es ist gut, dass unsere Kinder sehen, dass es auch in anderen Ländern Menschen mit Behinderungen gibt", so Vera Maltseva. Auch für die Mütter der Betroffenen sei es eine Entlastung und ein Fortschritt, wenn ihre Kinder in Gesellschaft sind und ihnen dadurch auch einmal Freiräume erwachsen.

Von den Eindrücken dieser Reise werden die russischen Kinder sicherlich noch lange zehren, denn auch das Freizeitprogramm hatte viele Highlights zu bieten. So ging es unter anderem mit dem Bus in den Safaripark, ins Miniaturwunderland in Hamburg, und einen Nachmittag verbrachten alle im Förderzentrum Appen, damit die deutschen Kindern ihren Freunden das Umfeld zeigen und die russischen Gäste eine noch bessere Vorstellung davon bekommen konnten.

Die Verständigung war kein Problem, zwei Sprachmittler unterstützten die Gruppe. Und wenn die sechs Austauschschülerinnen - darunter auch Anna - aus Selenogradsk dazustießen, die derzeit ein Schuljahr im Kreis Pinneberg absolvieren, halfen sie auch beim Übersetzen.

Die vollendeten Arbeiten des Projektes "Wir sind alle gleich und doch ist jeder anders" sollen in einer Art Wanderausstellung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Alle Arbeitsschritte werden mit Fotos und Berichten dokumentiert. Finanzielle Unterstützung könnte dem Verein möglicherweise in Kürze ins Haus stehen: Das Projekt ist beim Jugendwettbewerb "Initiative mit Pfiff" in die engere Auswahl gekommen. Mehr Informationen über den Verein im Internet.

www.selenogradsk.de