Die 66-jährige Möhrchen gilt als austherapiert. Als Gast in der Elmshorner Einrichtung lernt sie unbekannte Seiten an sich kennen.

Elmshorn. Hier ist mein Zuhause", sagt Ute M. Die 66-Jährige verbringt ihren letzten Lebensabschnitt im Johannis-Hospiz in Elmshorn. Die Frau mit den wachen blaugrauen Augen und den Lachfältchen gilt als austherapiert. Was genau sie eigentlich hat, möchte Möhrchen, wie sie von ihren Freunden genannt wird, gar nicht genau wissen. "Ich habe es im Kopf", sagt sie und steckt sich eine Zigarette an. Mit "es" meint sie Metastasen, die sich wohl im ganzen Körper ausgebreitet haben.

Auf dem kleinen Tisch in ihrem Zimmer stehen Fotos von Pferden. Daneben liegen Pferdebücher. Ute M. erzählt, dass sie früher gern geritten ist. Da lebte sie noch in Ellerhoop. Dann wurde sie krank. Im Dezember sei sie noch zur Reha auf Föhr gewesen. Wieder zurück, merkte sie, dass was nicht stimmte. Ihr fiel nicht mal mehr ihr eigener Name ein. Ute M. kam ins Krankenhaus nach Pinneberg. 14 Tage Gedächtnisverlust. Die Ärzte konnten ihr nicht mehr helfen, sie wurde in das Hospiz verlegt. "Zwei Tage später waren meine Erinnerungen wieder da." Mehr möchte sie zum Thema Krankheit auch nicht sagen. Die schlechten Dinge habe sie tief in ihrem Inneren eingeschlossen. "Mir geht es so, dass ich lebe und jeden Tag genieße", sagt Möhrchen. Sie ist frei von Schmerzen.

Ihre Gäste schmerzfrei zu halten und ihnen die letzte Zeit so angenehm wie möglich machen, sei eine der wichtigsten Aufgaben, sagt Hospiz-Leiterin Janet Dahlmann. "Die Menschen sollen gut von dieser Welt gehen können." Am 20. März haben sie und ihr Team den 1,8 Millionen teuren Neubau neben dem Klinikum Elmshorn an der Agnes-Karll-Allee bezogen, der von den Regio-Kliniken betrieben wird. Die Johanniter sind stille Teilhaber.

Das Hospiz war seit Juli 2007 nach einer Betriebsübernahme übergangsweise im vierten Stock des Klinikums untergebracht. "Jetzt haben wir mehr Platz", sagt Janet Dahlmann. Zwölf Einzelzimmer, derzeit alle belegt, stehen zur Verfügung und zwei Zimmer für Angehörige. Herzstück ist die offene Küche mit dem langen Esstisch. "Hier kommen Gäste, Angehörige, Besucher, ehrenamtliche Helfer und Angestellte zusammen, um zu essen, zu reden und auch zu lachen", sagt die 38-Jährige.

Zum Frühstück, Mittag und Abendbrot trifft Ute M. regelmäßig ihre Mitbewohner Waltraud Z., 92, Ursula F., 76, und Andre B., 46. Eine lustige Runde, findet sie. "Wir haben uns viel zu erzählen." Dabei sei sie nie ein offener Mensch gewesen. Nun sei das anders. "Hier entstehen Freundschaften", sagt Ute M. Sie sind kurz, aber intensiv. Ihrer Zimmernachbarin hielt Möhrchen in den letzten Stunden die Hand. Niemand muss alleine sterben.

Die räumliche Trennung von der Klinik habe den Vorteil, dass Angehörige den Behandlungsstopp leichter akzeptieren, sagt Janet Dahlmann. Das Hospiz sei aber auch für die Patienten ein Neuanfang. Sie kommen aus dem System von Behandlungen raus, um die letzte Zeit in Ruhe zu verbringen und sich mit dem Ende auseinanderzusetzen. Die Altersgrenze der Gäste ist stark gesunken. "2004 war das Durchschnittsalter noch 64 Jahre. 2011 liegt es bei 54 Jahren", sagt Janet Dahlmann. Auffällig sei auch, dass die Verweildauer kürzer werde. Während vor acht Jahren ein Gast durchschnittlich 23 Tage im Hospiz lebte, sind es heute nur noch zehn. "Die Ärzte behalten die Patienten immer länger in der Klinik, bis sie als austherapiert gelten", sagt sie.

Wer glaubt, im Hospiz würde ständig über den Tod gesprochen, der irrt. Im Raum der Stille werden nicht nur Andachten abgehalten, sondern auch öffentliche Klavierabende oder Bilderausstellungen. Janet Dahlmann holt das Leben ins Haus. Sie hofft, das Hospiz so zu enttabuisieren. "Das hier ist ein helles freundliches Haus, in dem bis zum Schluss gelebt wird." Auch wer keine Angehörigen im Hospiz hat, darf gern auf einen Kaffee vorbeischauen.

Einen Routineablauf wie in der Klinik gibt es nicht. Jeder Gast entscheidet selbst, wann und ob er aufstehen möchte. Wer nicht essen mag, wird nicht dazu gezwungen. "Wenn ein Gast den Mund nicht mehr öffnen will, ist das oft das letzte Zeichen, das er selbstbestimmt setzen kann", sagt Janet Dahlmann. Wer Appetit auf etwas Bestimmtes hat, dem wird es frisch zubereitet. "Statt Kaviar und Lachs wünschen sich die meisten etwas Bodenständiges wie Kartoffelsuppe", sagt Janet Dahlmann. Oft ist es ein Gericht aus Kindheitstagen.

Möhrchen wollte in den ersten Tagen im Hospiz am liebsten immer Milchreis mit Kirschen essen. Sie hat auf dem neuen Liegestuhl auf ihrer Terrasse Platz genommen. Von hier aus kann sie die Enten auf dem Teich beobachten oder die jungen Kaninchen, die gerade aus ihrem Bau kriechen. Gärtner pflanzen Blumen und Sträucher und verlegen den Rollrasen. Eine Streuobstwiese ist geplant. Ute M. genießt den Frühling. "Die Mitarbeiter erfüllen alle Wünsche", sagt sie. Ein entspannendes Bad bei Kerzenschein und Duftöl oder bei einem Glas Sekt, während der Fernseher läuft - kein Problem. Mundpflege mit Rollmopswasser oder gefrorener Ananas ist möglich, wenn es dem Gast gefällt. Auf den Zimmern darf geraucht werden. Auch das ist Lebensqualität.

Ein Gast wollte noch einmal richtig Power-Shoppen, erzählt Janet Dahlmann. Er gab in zwei Stunden 3000 Euro aus. Einer Bewohnerin sei es immer wichtig gewesen, die Blumen für den Kondolenztisch selbst zu besorgen. Im Licht des Geschäfts wirkten die Farben der Blüten jedoch ganz anders als im Hospiz. "Darüber hat sie sich sehr geärgert", sagt Janet Dahlmann. "Also haben wir eine Lampe über dem Tisch anbringen lassen, damit die Blumen genauso aussahen, wie im Laden."

Es sind längst nicht nur ältere Menschen, die ins Hospiz kommen. Da ist der 19-jährige Fußballverrückte, der Paninibilder sammelt; die 31 Jahre alte Managerin, die mit dem Laptop auf dem Bauch vom Bett aus arbeitet oder die Mutter, die den siebten Geburtstag ihres Sohnes plant. Die Schicksale sind nicht immer leicht auszuhalten, auch nicht für die erfahrenen Pflegekräfte. Supervision und Gespräche mit den Kollegen helfen, das Erlebte zu verarbeiten. Viel Kraft schöpfen sie aus ihrer Arbeit selbst. Sie sind für die Kranken da, nehmen sich viel Zeit für Gespräche. Im Krankenhaus ist das kaum möglich.

Auch Rituale helfen. Stirbt jemand, entzünden sie Kerzen. Vor das Zimmer wird eine Holzschale mit einem blauen Tuch aufgestellt. Es symbolisiert Wasser. Darauf schwimmt ein kleines Schiff. Auf dem Bett des Verstorbenen liegen Blütenblätter. "Acht Wochen später, nach der ersten Trauerphase, laden wir die Angehörigen zur Andacht", sagt Janet Dahlmann. Anschließend sitzen alle an einer großen Kaffeetafel - Menschen, die ihre Angehörigen besuchen, Menschen, die jemanden verloren haben, vor wenigen Wochen oder mehreren Monaten. "Sie helfen sich gegenseitig, den Tod zu verarbeiten oder sich darauf vorzubereiten."

Möhrchens Freundin ist dabei, deren Haushalt aufzulösen. "Irgendwo muss man ja anfangen", sagt Ute M. und lächelt. Doch noch hat sie einiges vor. Möhrchen hat ein neues Hobby. Sie malt. Außerdem möchte sie unbedingt wieder zum Aldi, wo sie sich neulich die karierten Ballerinas gekauft hat. Und sie hat noch einige Szenen mit dem Filmstudenten "mit den hübschen braunen Augen" abzudrehen, der über sie einen Film dreht. Sie hat noch so viel vor, dass sie es in ihrem Terminkalender eintragen muss.