Kaltenkirchen. Bengt Bergt, SPD-Bundestagsabgeordneter aus Norderstedt, fordert Reform des Werkstätten-Systems. So viel verdienen die Menschen hier.

Sie gelten nicht als normale Arbeitnehmer, sie profitieren nicht vom gesetzlichen Mindestlohn: Die bundesweit rund 300.000 Beschäftigten in Werkstätten für Menschen mit Behinderung verdienen nicht genug, um davon leben zu können. 2022 waren es bundesweit im Schnitt 224 Euro. Daher sind sie auf eine zusätzliche Grundsicherung angewiesen. Dieses System, das eigentlich darauf ausgerichtet ist, die Menschen auf eine spätere Teilhabe am regulären Arbeitsmarkt vorzubereiten, ist seit langer Zeit in der Kritik. Bengt Bergt, SPD-Bundestagsabgeordneter aus Norderstedt, setzt sich für eine Reform ein.

Bei einem Besuch der Werkstatt für Menschen mit Behinderung am Porschering in Kaltenkirchen informierte er sich nun vor Ort über die Bedingungen – und sah sich bestätigt. „Die Sichtweise der Menschen in den Werkstätten einzuholen, hat noch einmal verdeutlicht: Dieses System braucht dringend eine Reform. Das betrifft die Mitbestimmung der Werkstatträte und den Übergang in den offenen Arbeitsmarkt, vor allem aber das Entgeltsystem“, so der Sozialdemokrat, der seit 2021 im Deutschen Bundestag sitzt.

Behinderten-Werkstätten: Menschen verdienen weniger als der gesetzliche Mindestlohn

Je nach Auftragslage und wirtschaftlicher Situation erhalten Beschäftigte in Kaltenkirchen rund 350 Euro monatlich. Sie sind in der Hauswirtschaft, im Garten- und Landschaftsbau, in der Holzverarbeitung oder in der Montag und Verpackung tätig, es gibt hierfür Kooperationen mit Firmen aus der Region.

Andreas Mecke, ehrenamtlicher Inklusionsbeauftragter der Stadt Kaltenkirchen, weist darauf hin: „Die hohe Inflationsrate geht auch an den Menschen mit Lernschwierigkeiten nicht spurlos vorüber. Insbesondere die Beschäftigten in den Werkstätten, die einen eigenen Haushalt führen, spüren die gestiegenen Lebensmittelpreise und hohen Energiekosten ganz unmittelbar in ihren Geldbörsen.“ Die Landesarbeitsgemeinschaft der Werkstatträte in Schleswig-Holstein (LAG) betonte im Gespräch mit Bergt allerdings, dass es weder um „Werkstatt-Bashing“ gehe noch um individuelle Geldsorgen.

Faire Lösung: „Frei von Grundsicherung machen“ und Arbeitsplatzgarantie

Kernthema sei eine Veränderung des Systems an sich, inklusive der „unhaltbaren Entgeltregelungen“, so Kerstin Scheinert, die Vorsitzende der LAG. Sie verweist auf eine bereits 2019 erfolgte Untersuchung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Diese hatte den Anlass, „ein transparentes, nachhaltiges und zukunftsfähiges Entgeltsystem in Werkstätten für behinderte Menschen zu entwickeln“. Allerdings befürchten die Betroffenen, dass ihre Bedürfnisse in einem Gesetzgebungsverfahren nicht ausreichend berücksichtigt werden.

Bengt Bergt traf sich am Porschering in Kaltenkirchen mit der Landesarbeitsgemeinschaft der Werkstatträte, mit Inklusionsbeauftragten und Beschäftigten der dortigen Einrichtung.
Bengt Bergt traf sich am Porschering in Kaltenkirchen mit der Landesarbeitsgemeinschaft der Werkstatträte, mit Inklusionsbeauftragten und Beschäftigten der dortigen Einrichtung. © LAG Schleswig-Holstein | LAG Schleswig-Holstein

„Eine Kombination aus einem steuerfinanzierten auskömmlichen Sockelbetrag plus einem leistungsabhängigen erwirtschafteten Lohnbestandteil halten wir im ersten Schritt für eine faire Lösung“, sagt Thies Teegen aus dem LAG-Vorstand. Das würde die Menschen „frei von Grundsicherung machen“. Besondere Schutzrechte wie die fiktiv erhöhten Rentenzahlungen und eine Arbeitsplatzgarantie müssten bestehen bleiben.

Aus der Region

Aktion Mensch: Chancen zur Teilhabe von Menschen mit geistiger Behinderung „noch nicht gut“

Die Aktion Mensch, in der die großen deutschen Wohlfahrtsorganisationen zusammengeschlossen sind, hat einen Aufruf veröffentlicht mit Blick auf den europäischen Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen – dieser ist am 5. Mai. Es gebe „große Probleme“ bei der „Beschäftigung in Werkstätten und der Unterbringung in großen stationären Wohneinrichtungen“. Und: „Die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen muss hier noch mehr gestärkt werden. Auch die Chancen zur Teilhabe von Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung sind noch nicht gut.“

Bengt Bergt nimmt diesen Auftrag an. „In dem Gespräch mit den Selbstvertretern habe ich mir einen tieferen und näheren Einblick in diese besondere Arbeitssituation schaffen können. Dafür möchte ich mich ausdrücklich bedanken. 8 Euro pro Tag bei Vollzeit sind nicht genug. Jede Arbeit ist Arbeit, und Arbeit muss sich lohnen!“