Kattendorf. Chris Gust ist hochsensibel. Das wusste sie die längste Zeit ihres Lebens nicht. Nach Konzerten mit vielen Menschen fühlte sie sich nicht beflügelt, sondern ausgelaugt. „Ich hatte einen sozialen Kater am nächsten Tag“, sagt die 50-Jährige. Wenn ihre Kinder Legosteine in eine Kiste fallen ließen, war das Geräusch unangenehm laut für sie. Ihre Sinne sind schneller überreizt, sie fühlt mehr als viele andere Menschen. „Von klein auf an habe ich gehört: ,Sei doch nicht so empfindlich.‘ Ich habe mich total verbogen, um mich anzupassen“, sagt sie.
Schätzungsweise 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung sind hochsensibel – viele davon wissen es nicht. Hochsensibilität ist keine Diagnose, die ein Hausarzt stellt. Viele kennen den Begriff nicht einmal und können sich nichts darunter vorstellen. Hochsensible Menschen sind empfindlicher gegenüber Sinnesreizen. Zum Beispiel nehmen sie Geräusche oder einen kratzigen Pullover auf ihrer Haut viel intensiver wahr als andere.
Chris Gust hat die Schilder in ihrer Kleidung immer herausgeschnitten, zu unangenehm war das Gefühl für sie. Eine Freundin brachte sie schließlich auf die Idee, dass Hochsensibilität hinter ihren Emotionen stecken könnte. Die Kattendorferin begann, zu recherchieren. Der Verdacht bestätigte sich. „Ich war so erleichtert. Endlich war mir klar: Ich war nie falsch“, sagt sie. Wenn sie über die Erkenntnis, die sie vor etwa sechs Jahren hatte, spricht, füllen sich ihre Augen noch immer mit Tränen.
„jumiwi“ ist eine App für hochsensible Menschen
Sie hätte sich damals einen Austausch mit Gleichgesinnten gewünscht. Menschen, die empfinden wie sie. Die verstehen, dass die Welt manchmal einfach zu viel ist. Doch diese Menschen zu finden, war nicht einfach. Mühsam baute sie Kontakte auf. „Diesen schweren Weg möchte ich möglichst vielen anderen ersparen“, sagt sie. Deswegen gründete sie die App „jumiwi“ (you & me = we). Hier können sich hochsensible Menschen, aber auch Personen mit physischen oder psychischen Erkrankungen wie Angststörungen, Burnout oder Depressionen miteinander vernetzen und austauschen.
Chris Gust weiß: Sehr feinfühlige Menschen haben besondere Ansprüche an zwischenmenschliche Beziehungen. „Sie erleben oft Ausgrenzung, wenn sie nicht funktionieren, wie es von der Gesellschaft erwartet wird. Wenn jemand, der sich beispielsweise nach einem Burnout wieder im Berufsalltag zurechtfinden muss, am Ende der Woche erschöpft ist und zum eigenen Schutz eine Verabredung absagt, weil ihm alles zu viel wird, haben andere schnell keine Lust mehr“, sagt Gust. Bei Gleichgesinnten sind keine Erklärungen notwendig. „Es kann total erleichternd sein, sich zu vernetzen. Man stellt fest, dass man nicht alleine ist. Das stärkt das Selbstwertgefühl und baut Vertrauen in sich und andere auf“, sagt die „jumiwi“-Geschäftsführerin.
Es gibt keine echten Profilbilder, nur Avatare
Ihre App ist seit Mitte Oktober am Markt. Sie funktioniert ähnlich wie ein Dating-Portal: Die Nutzerin oder der Nutzer meldet sich an, erstellt ein Profil mit Namen, Alter und einer kleinen Beschreibung von sich. Ob der Wohnort angezeigt wird, ist jedem selbst überlassen. Auch kann eingestellt werden, von welchem Geschlecht man kontaktiert werden möchte. Auf diese Weise sollen Menschen, die Missbrauch erlebt haben, geschützt werden. Eine weitere Besonderheit: Es gibt keine echten Profilbilder, sondern lediglich Avatare. „Wir wollen eine Vorverurteilung durch Äußerlichkeiten ausschließen“, sagt Chris Gust.
Ist das Profil erstellt, können Nutzerinnen und Nutzer durch eine Filtereinstellung gezielt Freunde mit den gleichen Interessen suchen. Findet man einen Menschen sympathisch, schreibt man eine Anfrage. Diese muss von dem anderen angenommen werden. Auch gibt es die Möglichkeit, Personen zu blockieren. Plötzliche Kontaktabbrüche ohne Ankündigung („Ghosting“) können verletzend sein. Deswegen bekommen Nutzer, die blockiert worden sind, eine persönliche Nachricht von „jumiwi“. „Wir haben versucht, auf alles vorbereitet zu sein, und die App so umsichtig wie möglich zu gestalten“, sagt Gust.
Chris Gust hat Kredit aufgenommen, um App zu gründen
Wer „jumiwi“ erst einmal ausprobieren möchte, zahlt für eine Laufzeit von einem Monat 12 Euro. Ein dreimonatiges Abo kostet 33 Euro, ein halbes Jahr 60 Euro. Die App ist nicht kostenfrei, damit sich nur Menschen anmelden, die ernsthaft interessiert sind. Auf Werbung innerhalb der Anwendung wird verzichtet. Das Design ist bewusst ruhig gehalten, um eine Reizüberflutung zu vermeiden.
Mehr aus der Region
- Wintervergnügen: Erster Weihnachtsmarkt in Norderstedt hat geöffnet
- Polarlichter im Kreis Segeberg: Chance „so groß wie seit Jahrzehnten nicht“
- Vegane Brüder auf dem Bauernhof: Schluss mit Tierausbeutung
Chris Gust hat einen Kredit aufgenommen, um „jumiwi“ entwickeln zu lassen. Einen sechsstelligen Betrag hat die Mutter dreier Kinder in ihren Traum investiert, hochsensiblen Menschen das Leben zu erleichtern. Anderen zu helfen, ist ihre Lebensaufgabe.
Anderen Menschen zu helfen, ist ihre Lebensaufgabe
Bereits vor einigen Jahren hat sie den Telefondienst „Mutruf“ gegründet. Menschen, die eine Panikattacke erleiden, können sich dort melden. Ein ehrenamtliches Team begleitet die Betroffenen durch ihre Angstzustände, lässt sie nicht allein. Gust weiß, wie es sich anfühlt, Panikattacken und Todesangst zu haben. Viele Jahre litt sie selbst darunter. Auch das können Folgen von Hochsensibilität sein.
Zwei Bücher hat sie über das Thema Angst geschrieben. Mit ihrer Geschichte möchte sie anderen Mut machen. Außerdem steht sie Menschen als Coachin zur Seite und arbeitet als Künstlerin. Sie hat schon viele Porträts von Prominenten gemalt und sie für einen guten Zweck versteigert. „Ich will die Welt verändern – nicht mehr und nicht weniger“, sagt sie.
Mehr Artikel aus dieser Rubrik gibt's hier: Norderstedt