Kiel/Norderstedt. Landgerichtspräsident Kellermann präsentiert Jahresstatistik. Wie der Fachkräftemangel auch zunehmend die Justiz lähmt.

„Wir ringen um mehr Haushaltsmittel, Personal, Räumlichkeiten und digitale Ausstattung“, sagte Landgerichtspräsident Wilfried Kellermann bei der Präsentation der Jahresstatistik 2022 für den Landgerichtsbezirk Kiel, zu dem auch die Amtsgerichte Norderstedt und Bad Segeberg gehören.

Die Belastung der 150 Richterinnen und Richter und der etwa 1000 Beschäftigten am Landgericht und den angeschlossenen Amtsgerichten in Norderstedt, Bad Segeberg, Neumünster, Eckernförde, Rendsburg und Plön sei hoch. Zwar sei die Zahl der eingegangenen Fälle im Landgerichtsbezirk 2022 gesunken. Doch diese Entlastung werde mehr als aufgebraucht durch die wachsende Komplexität und Dauer der Straf- und Zivilverfahren.

Landgericht Kiel: Gerichte am Limit – weniger Fälle, aber längere Prozesse

Knapp eine Million Menschen leben im Bezirk des Landgerichts Kiel. In erster Instanz führt das Landgericht Strafprozesse mit einer Straferwartung über vier Jahre und Zivilprozesse mit einem Streitwert über 5000 Euro. Schwerere Delikte im Kreis Segeberg wandern also immer direkt nach Kiel.

Wie zuletzt der Fall eines eifersüchtigen Ehemanns (39) aus Ellerau, der wegen Mordversuchs an einem Nebenbuhler zu fünfeinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Das Opfer überlebte dank einer Not-OP am Herzen. Norderstedt und sein Amtsgericht ist nur für die „kleineren“ Verfahren zuständig.

Eine Ausnahme bildet das Amtsgericht Kiel an der Deliusstraße, das eine eigene Verwaltung und Präsidentin hat. Doch auch die hier verhandelten Straf- und Zivilverfahren landen in zweiter Instanz beim Kieler Landgericht, wenn Rechtsmittel gegen ein Urteil eingelegt werden.

Digitalisierung soll Personal entlasten – aber das dauert

Wilfried Kellermann, Landgerichtspräsident in Kiel.
Wilfried Kellermann, Landgerichtspräsident in Kiel. © Thomas Geyer

Aus dem gesamten Bezirk gingen im vergangenen Jahr 210 Strafverfahren beim Landgericht ein. Davon kamen 27 Berufungen aus dem Amtsgericht Norderstedt und 13 aus dem Amtsgericht Bad Segeberg. Von den 258 Zivilverfahren, die als Berufungssache zur Neuverhandlung eingingen, stammen 45 aus Norderstedt und 36 aus Bad Segeberg.

Das dringend mehr Geld, Personal und Räume für die Justiz im Landgerichtsbezirk benötigt würden, sei mittlerweile auch in der Politik unstrittig, sagt Kellermann. Ein schwacher Trost für die Beschäftigten. Aber zum Beispiel ein neues Berechnungssystem für den Personalbedarf sei erst am Ende des Jahrzehnts zu erwarten. Grund sei die noch nicht abgeschlossene Digitalisierung der Justiz.

Freie Stellen: Qualifiziertes Personal für muss erst gefunden werden

Der Weg zur elektronischen Akte sei noch nicht in allen Justizbereichen abgeschlossen. Die Beschleunigungseffekte der Digitalisierung sollen erst rundum greifen können, bevor man den Personalbedarf als größten Finanzposten den neuen Erfordernissen anpasst. Doch auch wenn zusätzliche Stellen geschaffen werden, seien nicht alle Probleme gelöst: Qualifiziertes Personal muss erst mal gefunden werden.

Schon jetzt könnten auch in der Justiz nicht mehr alle offenen Stellen besetzt werden – trotz Werbung, so Kellermann. Nun sollen Verbesserungen im Betriebsklima die Attraktivität der Justiz steigern: Eine Arbeitsgruppe sucht nach Stellschrauben zur Erhöhung der Arbeitszufriedenheit und des inneren Zusammenhalts in der Behörde. Bisher war es vor allem die Familienfreundlichkeit, die gegenüber der besser zahlenden freien Wirtschaft punkten konnte.

Anwälte in Hamburg verdienen das Doppelte eines Richters in Kiel

Als Rechtsanwalt in Hamburg erwarte den juristischen Nachwuchs mindestens 100.000 bis 150.000 Euro Anfangsgehalt, rechnet Kellermann vor. Richter bekämen nur die Hälfte. Auch gute IT-Spezialisten seien für den Öffentlichen Dienst schwer zu begeistern – vor allem in Norderstedt und dem Hamburger Umland.

Den wachsenden Anforderungen immer komplexerer Strafverfahren vor allem bei Wirtschafts- und Drogendelikten begegne das Landgericht mit der Einrichtung zusätzlicher Großer Strafkammern: In den letzten fünf Jahren stieg die Zahl der mit je drei Berufsrichtern besetzten Kammern von sieben auf zehn.

Arbeitsaufwand pro Strafverfahren „um 50 Prozent erhöht“

Laut Kellermann hat sich der Arbeitsaufwand pro Strafverfahren am Landgericht in den letzten Jahren um 50 Prozent erhöht. Vor allem die Digitalisierung der Kommunikation und technisch anspruchsvolle Ermittlungsmethoden zögen die Beweisaufnahme in die Länge.

Ob Telefonüberwachung, Chatverläufe oder Überwachungsvideos – zur Aufklärung Organisierter Kriminalität vom Kokainhandel wie dem Fall um die „Koks-Taxis“ im Raum Norderstedt bis zum Serienbetrug mit dem Enkel- oder Polizeitrick seien oft Hunderte digitaler Spuren auszuwerten.

Auch Zivilverfahren wie die rund 100 „Dieselprozesse“, die am Landgericht noch anhängig sind, würden immer komplexer. Die Schriftsätze würden dank IT und vorformulierter Textbausteine auswärtiger Spezialanwälte oft auf viele Hundert Seiten anschwellen. Ein weiterer Schwerpunkt: Die Häufung der Klagen gegen Beitragserhöhungen privater Krankenversicherer.

Kein Angeklagter musste vor Prozessbeginn aus der U-Haft entlassen werden

Den wachsenden Raumbedarf und die fortschreitende Digitalisierung hat man am Landgericht anscheinend im Griff: Die Verhandlungssäle sind mit Großbildschirmen ausgestattet. Nach Fertigstellung des Anbaus im Innenhof des Gebäudekomplexes wurde ein weiterer, viergeschossiger Anbau neben der Kieler JVA genehmigt.

Froh ist der Behördenchef auch über die Nachricht, hier habe man anders als in den Landgerichtsbezirken Lübeck, Flensburg und Itzehoe keinen Angeklagten vor Prozessbeginn aus der U-Haft entlassen müssen. An diesem Erfolg seien auch Polizei und Staatsanwaltschaft beteiligt.

Für Großverfahren plant Schleswig-Holstein ein zentrales Verhandlungszentrum

In U-Haft sitze mittlerweile jeder vierte Angeklagte, so Kellermann. Die zunehmende Aufdeckung der kriminellen Umfelder führe zu immer größeren Prozessen mit immer mehr Beteiligten. Für solche Mammutverfahren fehlten in Schleswig-Holstein die Räumlichkeiten.

Zur Bewältigung künftiger Großprozesse werde ein zentrales Verhandlungszentrum für alle vier Landgerichte in Schleswig-Holstein errichtet, kündigt Kellermann an. Eine Arbeitsgruppe erstelle bereits ein Konzept für die prozessualen und sicherheitstechnischen Erfordernisse.