Norderstedt. Fußballfans stellen sich die Moralfrage: Sollte man die Skandal-WM in Katar boykottieren? Wir haben uns dazu in der Stadt umgehört.

Eine Fußball-Weltmeisterschaft in der Vorweihnachtszeit. In einem erzkonservativen Wahhabiten-Emirat ohne Fußballtradition. Das Homosexualität als „Schaden im Gehirn“ bezeichnet und unter Strafe stellt. Das Menschenrechte von Wanderarbeitern seinen Profitinteressen unterordnet. Was insofern allerdings ganz gut zum Fußballweltverband FIFA passt, der es bei der mutmaßlich von Korruption durchseuchten Vergabe der WM an Katar nicht anders machte.

Skandal-WM in Katar: Anschauen oder weggucken? Das sagen Norderstedter

Moralisch haben alle Institutionen des Weltfußballs komplett versagt. Und am Ende die Moralfrage dem Fußballfan vor die Füße geworfen. So muss nun jeder selbst entscheiden im Spannungsfeld zwischen Haltung, Protest, Widerstand und der Liebe zum Fußball. Darf ich die WM-Gucken? Muss ich wegschauen? Es ist die Frage der Stunde. Wir haben uns in Norderstedt umgehört und um Antworten gebeten.

Ilka Bandelow, Erste Vorsitzende des Vereins Willkommen-Team Norderstedt.
Ilka Bandelow, Erste Vorsitzende des Vereins Willkommen-Team Norderstedt. © FMG | Claas Greite

lka Bandelow, Erste Vorsitzende des Vereins „Willkommen-Team Norderstedt“: „Ich werde das weitgehend boykottieren. Allenfalls dann, wenn Deutschland im Finale steht, werde ich eine Ausnahme machen. Ich bin ein großer Fan von Frauenfußball und habe mir auch gerne die letzten Weltmeisterschaften der Männer angesehen, besonders natürlich die in Brasilien. Und auch beim Sommermärchen 2006 hatten wir hier eine tolle Stimmung. Aber die WM in Katar ist eine Veranstaltung zum Abdrehen.“

Kai Jörg Evers, Geschäftsführer der Stadtpark Norderstedt GmbH.
Kai Jörg Evers, Geschäftsführer der Stadtpark Norderstedt GmbH. © HA | Burgmayer

Kai Jörg Evers, Geschäftsführer der Stadtpark Norderstedt GmbH und Dauerkarteninhaber beim FC St. Pauli: „Nein, ich gucke keine WM und nehme auch an keinem Tippspiel teil. Ich finde diese Weltmeisterschaft sowas von falsch. Das hat für mich nichts mit Fußball und seinen Werten zu tun, sondern nur mit Kommerz. Auch die meisten Leute aus meinem Umfeld, die dem FC St. Pauli ebenfalls nahestehen, werden die WM boykottieren.“

Agâh Schaumburg ist Manager des Herold-Center in Norderstedt.
Agâh Schaumburg ist Manager des Herold-Center in Norderstedt. © Annabell Behrmann

Agâh Schaumburg, Manager des Herold-Centers: „Dreiviertel der Spiele kann ich wegen der frühen Anstoßzeiten gar nicht sehen. Daher will das WM-Gefühl dieses Jahr nicht entstehen. Trotzdem werde ich die Spiele der Nationalmannschaft verfolgen, sollte es sich einrichten lassen.“

Philip Turton, Oberstufenschüler in Norderstedt.
Philip Turton, Oberstufenschüler in Norderstedt. © Philip Turton

Philip Turton, 17, Oberstufenschüler in Norderstedt: „Ich habe 11 Jahre lang selbst Fußball gespielt und bin momentan Fußball-Trainer. Ich werde die Spiele von Deutschland oder England trotzdem mitverfolgen. Allerdings definitiv nicht in dem Ausmaß wie bei vorherigen WMs. Die Stadien sind gebaut und die korrupte WM-Vergabe kann man nicht mehr rückgängig machen. Anstatt zu boykottieren, sollte man lieber präventiv Maßnahmen ergreifen, sodass das nicht noch einmal passiert.“

 Eintracht Norderstedts Präsident Reenald Koch.
Eintracht Norderstedts Präsident Reenald Koch. © Anne Pamperin

Reenald Koch, Präsident des Fußballclubs Eintracht Norderstedt: „Dass eine Fußball-Weltmeisterschaft im Winter stattfindet, dokumentiert, welchen Einfluss das Geld im Sport hat. Die Rahmenbedingungen in Katar sind natürlich fragwürdig, die Menschenrechte stehen über allem und sind nicht verhandelbar. Aber wenn wir die Moral über alles stellen, dann darf die Wirtschaft konsequenterweise ab sofort auch keine Waren mehr nach China liefern. Ich werde mir nur die Spiele der deutschen Nationalmannschaft anschauen. Wohin die Reise geht, wird vermutlich schon das erste Gruppenspiel gegen Japan zeigen. Vielleicht ist das Turnier für uns ja wie 2018 in Russland schon nach der Vorrunde vorbei.“

Künstlerin Beatrix Berin Sieh hat den Kulturpreis der Stadt Norderstedt erhalten.
Künstlerin Beatrix Berin Sieh hat den Kulturpreis der Stadt Norderstedt erhalten. © Annabell Behrmann

Beatrix Sieh, freie Künstlerin, neue Kulturpreisträgerin Norderstedts und seit 1974 Fußball-Fan: „Ich würde die Spiele gern gucken, aber ich werde aus Protest kein einziges Spiel von der WM in Katar verfolgen. Abgesehen davon, dass nach meiner Kenntnis schon bei der Vergabe geschmiert wurde, verbietet es auch die Menschenrechtslage in Katar. Zudem hat sich das Land zum Bau der acht Stadien und weiterer Infrastruktur billige Arbeitskräfte ins Land geholt, die zu unzumutbaren Bedingungen arbeiten müssen. Das darf man nicht unterstützen. Das alles hat man zwar in vielen Ländern, aber nun ist genau der richtige Zeitpunkt, das Brennglas auf Liebling Fußball zu halten. Es muss sich endlich etwas ändern bei den WM-Entscheidungsträgern, denn was haben Südafrika und Brasilien von der Weltmeisterschaft gehabt? Nachhaltig nichts. Nur leere Versprechen, zurückgelassene Stadien-Ruinen und frustrierte Menschen.“

Pastor Martin Lorenz von der Emmaus-Kirchengemeinde und Ehefrau Dorit Lorenz-Heinrich
Pastor Martin Lorenz von der Emmaus-Kirchengemeinde und Ehefrau Dorit Lorenz-Heinrich © Heike Linde-Lembke

Pastor Martin Lorenz, Emmauskirchengemeinde Garstedt: „An Jesus können wir zwei Seiten wahrnehmen. Er war nach allem, was wir heute wissen können, ein lebensbejahender Mensch. Nicht umsonst nannten ihn seine Feinde ,Fresser und Weinsäufer’. Zugleich war er radikal auf der Seite der Opfer der damaligen Gesellschaft. Das altgriechische Wort für das ,Volk’, von dem im Neuen Testament immer geschrieben wird, dass es ihm nachgefolgt sei, übersetzen wir heute treffender mit ,die Verzweifelten’. Und das sind heute ganz sicher die entrechteten, verletzten oder gestorbenen Arbeitsmigrantinnen und -migranten, die die WM in Katar erst möglich gemacht haben. Mein Rat: Freut Euch an gutem Fußball und feiert schönen und fairen Sport! Und setzt Euch zugleich dafür ein, dass die ausgebeuteten Arbeiterinnen und Arbeiter zu ihrem Recht kommen. Eine einfache Möglichkeit dazu bietet Amnesty International unter www.amnesty.de/wm-katar-2022.“

SV Todesfelde-Trainer Sven Tramm.
SV Todesfelde-Trainer Sven Tramm. © Thomas Maibom

Sven Tramm, Trainer des Fußball-Oberligisten SV Todesfelde: „Die Weltmeisterschaft in Katar ist ein zweischneidiges Schwert. Sportlich ist man natürlich interessiert, aber es gibt bislang absolut kein WM-Feeling. Normalerweise würde jetzt mit großer Vorfreude geplant werden, wann man sich mit Freunden trifft, welche Grillwurst eingekauft wird. Das alles fehlt, und in punkto Nachhaltigkeit ist das Turnier in Katar eine Katastrophe. Die deutschen Spiele werde ich mir wohl anschauen, da kommt man als Fußballfan nicht drumherum.“

Danny Clausen-Holm, Vorstand des Lesben- und Schwulenverbandes Schleswig-Holstein aus Norderstedt.
Danny Clausen-Holm, Vorstand des Lesben- und Schwulenverbandes Schleswig-Holstein aus Norderstedt. © LSVD | LSVD

Danny Clausen-Holm, Mitglied im Vorstand des Lesben- und Schwulenverbandes Schleswig-Holstein und Norderstedter: „Als LSVD verurteilen wir wiederholten Menschenrechtsverletzungen sowie die andauernde Kriminalisierung und Verfolgung queerer Menschen in Katar. Mit der Vergabe einer WM oder Olympia in derart problematische Länder wird sich mitnichten etwas an der dortigen Menschenrechtssituation ändern. Der Zuschlag derlei Spitzenereignisse scheint gleichwohl ohnehin nicht von Menschenrechten oder Umweltverträglichkeit geknüpft oder abzuhängen. Das werden wohl andere Interessenlagen sein. Unsere Innenministerin spricht von einer positiven Entwicklung in Katar. Doch spätestens seit den olympischen Winterspielen in Russland ist eines klar: Wir sollten mit der Lebenslüge aufhören zu hoffen, dass Sportereignisse in totalitären Regimen zu mehr Menschenrechten führen! Das ist ein kolossaler Irrglaube. Dass die WM dort stattfindet, lässt sich nicht mehr ändern. Es wäre aber ein idealer Zeitpunkt für ein öffentliches Coming-Out von Spitzenfußballern. Ich bin davon überzeugt, dass das ein klares, lautes und deutliches Zeichen wäre.“

Martin Hageböke, Kantor in der Ulzburger Kreuzkirche.
Martin Hageböke, Kantor in der Ulzburger Kreuzkirche. © Martin Hageböke

Martin Hageböke, Musiker, Kantor Ulzburger Kreuzkirche: „Man sollte sich kein WM-Spiel aus Katar anschauen, einmal aus Solidarität mit den unterdrückten und den zu Tode gekommenen Arbeitern und zum zweiten aus Protest gegen die korrupte Vergabe der WM an ein Land, das die Menschenrechte nicht achtet. Deshalb fände ich es gut, durch Boykott der WM ein Zeichen zu setzen für Menschenrechte und Fairness.“

Wolfgang Dellke, Buchhändler und Literaturvermittler in Norderstedt.
Wolfgang Dellke, Buchhändler und Literaturvermittler in Norderstedt. © EGNO | EgNo

Wolfgang Dellke, Buchhändler und Literaturvermittler in Norderstedt: „Man darf die Spiele anschauen, ich werde es aber nicht tun, weil ich sowohl die Verhältnisse in Katar als untragbar empfinde als auch das Auftreten, die Entscheidungen, die Heuchelei der Vertreter des Weltfußballs ablehne. Wie man zu den gesellschaftlichen Verhältnissen in Katar steht, zur eklatanten und permanenten Verletzung der Menschenrechte, zur Ausbeutung der Gastarbeiter und zwar nicht nur im Zusammenhang mit der Errichtung der Fußballstadien, ist noch eine andere Frage. Die FIFA mit Infantino an der Spitze ebenso wie das IOK unter Thomas Bach, das ist der Skandal. Diese Organisationen sind moralisch korrupt, denn sie folgen nur dem Geld. Einen Boykott der Spiele durch die teilnehmenden Mannschaften hätte ich sehr begrüßt. Aber auch da sind es neben anderen die Vereinspräsidenten, die nur nach dem Geld gucken. Und die Spieler gehen leider mit. Infantino und Konsorten gehören abgewählt, die FIFA und vergleichbare Organisationen desgleichen.“

Lane Pauschardt, Schülerin aus Norderstedt
Lane Pauschardt, Schülerin aus Norderstedt © Lane Pauschardt

Lane Pauschardt, 17, Schülerin aus Norderstedt, HSV-Fan: „Da ich ein großer Sport-Fan bin, werde ich trotzdem hin und wieder einschalten, wenn Deutschland spielt. Die schlechte mediale Kritik ist vielleicht auch ein Zeichen für Katar, dass etwas zu ändern ist.“

Vera Homp, Stürmerin des Frauenfußball-Regionalligisten SV Henstedt-Ulzburg
Vera Homp, Stürmerin des Frauenfußball-Regionalligisten SV Henstedt-Ulzburg © Thomas Maibom

Vera Homp, Stürmerin des Frauenfußball-Regionalligisten SV Henstedt-Ulzburg: „Jeder muss für sich selbst entscheiden, ob und wie er die WM in Katar verfolgt. Dass man Stadien in die Wüste baut, die später nicht mehr genutzt werden, ist unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit natürlich absolut hirnrissig. Mein Interesse hält sich in Grenzen. Ich werde mir die deutschen Spiele anschauen, sofern sich das mit unserem Trainingsplan koordinieren lässt, mehr aber auch nicht.“

Pastor Eckhard Wallmann von der Johannes-Kirchengemeinde Friedrichsgabe.
Pastor Eckhard Wallmann von der Johannes-Kirchengemeinde Friedrichsgabe. © Eckhard Wallmann

Pastor Eckhard Wallmann, Johannes-Kirchengemeinde Friedrichsgabe: „Natürlich ist das schon alles sehr schief in Katar. Aber es wissen auch alle. Ungehemmt feiern wird schwierig. Aber wenn wir nicht wieder in der ersten Runde scheitern, wird es ja vielleicht spannend und spannender. Ich werde dann wohl doch mitfiebern, wenn ich die Spannung aushalte. Nur peinlich wird es bleiben, selbst ein Titel dort.“

Hauke Haese, Schüler aus Norderstedt.
Hauke Haese, Schüler aus Norderstedt. © Hauke Haese

Hauke Haese, 18, Schüler aus Norderstedt, Handball-Fan: „Ich habe mir vorgenommen, die diesjährigen Spiele zu boykottieren. Ich werde mir vielleicht mal den Endstand im Internet anschauen, die Spiele aber nicht. Während des Baus der WM-Stadien in Katar sind viele Bauarbeitende ums Leben gekommen. Außerdem werden Menschen- und Frauenrechte in Katar nicht beachtet und das will ich nicht unterstützen.“

Yoga-Lehrerin Ane Königsbaum (l.), hier mit Christa Heise-Batt, Autorin niederdeutscher Bücher, Gedichte und Geschichten.
Yoga-Lehrerin Ane Königsbaum (l.), hier mit Christa Heise-Batt, Autorin niederdeutscher Bücher, Gedichte und Geschichten. © Heike Linde-Lembke

Ane Königsbaum, Yogalehrerin, freie Künstlerin und Kulturpreisträgerin: „Die WM hätte nicht an Katar gegeben werden dürfen. Doch ich schaue sowieso nicht, weil Fußball mich seit Jahren nicht mehr anspricht, ich meine aber, das Thema Menschenrechte sollte gerade jetzt in den Medien besprochen werden, nur dann rückt es mehr und mehr ins Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger. Boykott scheint mir nicht das richtige Mittel zu sein, weil es bei den Entscheidern nicht ankommt.“

Jan Lüneburg, Stürmer von Eintracht Norderstedt.
Jan Lüneburg, Stürmer von Eintracht Norderstedt. © Thomas Maibom

Jan Lüneburg, mit 119 Pflichtspieltreffern Rekordtorschütze von Eintracht Norderstedt: „Dass die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar stattfindet, ist aus mehreren Gründen fragwürdig. Ich nenne da nur die Punkte Menschenrechte, Arbeitsbedingungen und Terminierung. Das Turnier hätte schon bei der Vergabe von den Verbänden boykottiert werden müssen. Es ist schade für Spieler, dass die WM unter so negativen Vorzeichen stattfindet. Möglicherweise schauen wir uns das eine oder andere Match mit der Mannschaft an.“

Carsten Prehn, Wirt des „Max und Moritz“.
Carsten Prehn, Wirt des „Max und Moritz“. © Stadt Norderstedt

Carsten Prehn, Wirt der Norderstedter Kneipe „Max + Moritz“: „Wir zeigen die WM auf jeden Fall. Aber ich werde keinen Aufriss betreiben. Normalerweise schmücken wir die Kneipe immer für die Fußball-WM. Darauf habe ich dieses Mal keine Lust. Aber die Leute, die sich jetzt über die Vergabe der WM nach Katar aufregen, hätten dann auch schon viel früher ihre Stimmen erheben müssen. Zum Beispiel 2018, bei der WM in Russland. Ich sehe der ganzen Veranstaltung gelassen entgegen. Wer kommt, der kommt.“

WM in Katar: Norderstedter Künstler wird sich Übertragung nicht anschauen

Frank Boje Schulz, Künstler aus Norderstedt.
Frank Boje Schulz, Künstler aus Norderstedt. © Heike Linde-Lembke

Frank Boje Schulz, Künstler: "Ich werde mir keine WM-Übertragungen ansehen. Katar hätte niemals als Austragungsort für die WM benannt werden dürfen, und es wäre schön, wenn sehr viele Menschen die Übertragungen boykottieren, um so ein Zeichen für Menschenrechte, Gleichberechtigung und Frieden in der Welt zu setzen. Mit dieser WM in Katar stellt sich der Fußballverband gegen die Menschenrechte. Denen es geht nur um Profit.“

Ex-HSV-Profi Tobias Homp
Ex-HSV-Profi Tobias Homp © Thomas Maibom

Tobias Homp, Ex-HSV-Profi: „Es tut zwar weh, aber ich werde mir kein einziges WM-Spiel ansehen.“