Norderstedt. In Norderstedt wurde am Mittwoch der Reichspogromnacht gedacht, in der vom 9. auf den 10. November 1938 das NS-Regime testete, wie weit die Deutschen die Verfolgung ihrer jüdischen Nachbarn hinzunehmen bereit sind. In der Stadtbücherei Norderstedt erzählte Stefanie Szczupak, zweite Schoa-Generation und Mitglied des Vorstands der Jüdischen Gemeinde Hamburg, darüber, wie sehr das Trauma des Holocausts ihr Leben auch heute noch beeinflusst. Im Dialog mit ihr auf dem Podium Tanja Breukelchen, Autorin des Buches „Hamburgs starke Frauen – 30 Porträts“.
Es gibt nur noch wenige Schoa-Überlebende der ersten Generation. Ihren Kindern haben sie meist gar nichts von ihrem Leiden während des dunkelsten Kapitels Deutschlands erzählt, offener wurden sie gegenüber ihren Enkelkindern. Das gilt sowohl für die Opfer als auch für die Täter.
Reichspogromnacht: „Als Kind fand ich KZ-Erlebnisse ganz normal“
Die wenigen Jüdinnen und Juden, die nach dem Holocaust wieder in Deutschland lebten, kapselten sich ab – sowohl von ihren Kindern, erst recht aber von ihrer nichtjüdischen Umwelt. Das Leid, das sie erfahren mussten, war zu unaussprechlich – zu unfassbar. Auch für sie selbst. Jedes Wort darüber beschwor die Gräuel erneut, die Traumata konnten nicht geheilt werden.
Stefanie Szczupak erinnerte sich, wie sie als Kind unterm Esstisch saß und die KZ-Geschichten der Gäste ihrer Eltern hörte: „Von Lampen aus Menschenhaut war die Rede, von Tritten der SS-Bewacher in Babybäuche und mehr.“
Die erste Generation der Schoa-Überlebenden schwieg
Die Generation der Schoa-Überlebenden verbannte ihre Erinnerungen ganz tief in ihr Unterbewusstsein, in ihre Seele. Und schwieg. Jedenfalls gegenüber der nächsten Generation, ihren Kindern. Stefanie Szczupak gehört zu dieser zweiten Generation. Sie ist die Tochter eines Schoa-Überlebenden, der nach der Befreiung Deutschlands von der NS-Barbarei eine nichtjüdische Frau heiratete, mit ihr in die USA auswandern wollte, aber nicht durfte.
Denn aufgrund seiner Nähe zur 1947 gegründeten Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes, Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten, wurde er von der US-Regierung als Kommunist eingestuft – Einreise verweigert. Das Paar blieb in Deutschland. Sie konvertierte zum Judentum, sie heirateten, bekamen 1952 einen Sohn, 1966 Tochter Stefanie.
Erlebnisse des Vaters im Warschauer Ghetto haben sich tief eingegraben
Heute hat sie selbst zwei Kinder – Töchter der dritten Generation. „Meine Eltern und ihre Freunde, zumeist KZ-Überlebende, konnten gut feiern, sie feierten, um ihre Traumata für den Moment zu vergessen und erzählten sich ihre KZ-Erlebnisse, ich hörte alles, und fand das als Kind sogar normal, doch heute weiß ich, dass sich die Erlebnisse meines Vaters im Warschauer Ghetto tief in mir eingegraben haben“, sagt Stefanie Szczupak.
Ihre Familie ist nicht religiös, gleichwohl kein Schweinefleisch auf den Tisch kommt und alle jüdischen Feste gefeiert werden – Chanukka und nicht Weihnachten, Pessach und nicht Ostern. „Ich bin 100 Prozent jüdisch und glaube an Gott“, sagt Stefanie Szczupak und bezeichnet sich als traditionelle Jüdin.
Erst als alter Mann öffnete sich der Vater und erzählte
Als sie ihre jüngste Tochter geboren hatte, öffnete sich ihr Vater und begann zu erzählen. „Sie sah genauso aus wie er, und das schien in ihm etwas auszulösen“, erinnerte sich Szczupak.
Ihr Vater habe sein Leben im Warschauer Ghetto und anschließend im Todeslager Auschwitz „80 Jahre lang komplett verdrängt“. Gleichwohl er seinen Vater und seinen Bruder mit einer Handpritsche im Ghetto zum „Umschlagplatz“, dem Deportationsplatz nach Auschwitz, fahren musste. Auch ihre Mutter habe alle Erinnerungen „weggeblendet“.
Heute will Stefanie Szczupak auch versöhnen. „Wir unterliegen alle einem Trauma, ob Opfer oder Täter, es ist daher wichtig, zu erkennen, dass wir ein Familien-Gedächtnis mit uns herum tragen.“ Die heutigen Opfer- und Täter-Generationen müsse in einen Dialog treten, ihre Rollen überwinden und sich ehrlich austauschen, „auch, wenn es wehtut“.
Reichpogromnacht: Familien der Opfer und Täter müssen miteinander reden
Nachdem Stefanie Szczupak geheiratet und ihre Töchter bekommen hatte, zog sie zurück in die Wohnung ihrer verstorbenen Eltern. Doch nach sechs Jahren musste sie die Wohnung wieder aufgeben: „Ich konnte dort nicht klar denken, weil die Erinnerungen an meine Kindheit und Jugend, die Erzählungen der Freunde meiner Eltern mich wieder einholten.“
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Sie träumte von Kriegserlebnissen und erkannte, dass sie die Traumata, die ihre Eltern ihr vererbten, ihren Kindern zuliebe lösen musste, dass sie den fixen Gedanken „Ich verdiene es nicht, glücklich zu leben“, den ihr die Eltern hinterlassen hatten, verarbeiten musste. Sie vertraute sich einer Therapeutin an. Und: Sie zog aus.
Lesung mit Tanja Breukelchen,Do, 17. 11., 19.00, VHS, Rathausallee 50.Die Autorin liest aus ihrem Buch „Hamburgs starke Frauen – Jüdinnen im Nationalsozialismus“ mit den Porträts von 30 Hamburgerinnen aus vier Jahrhunderten. Sie porträtierte unter anderem Peggy Parnass, Anita Rée, Ida Dehmel, Ida Ehre und Felicitas Kuckuck. Karten 10 Euro, VHS-Center, Rathaus-Passage, und unter info@vhs-norderstedt.de
Das Buch: „Hamburgs starke Frauen“, 190 Seiten, Droste-Verlag, 20 Euro im Buchhandel.
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