Norderstedt. Mit welchen provokanten Ideen der Ökonom Thomas Straubhaar Staat und Gesellschaft in Deutschland reformieren will.

Das Kindergeld von heute mal fünf für alle Bürgerinnen und Bürger in Deutschland – das ist die Kurzform, auf die Professor Thomas Straubhaar sein Konzept vom bedingungslosen Grundeinkommen bringt. Auf Einladung der Stadtbücherei und der Gleichstellungsstelle der Stadt Norderstedt sprach der Schweizer Ökonomen, der an der Hamburger Universität die Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften leitet, in Norderstedt über „Neues Denken – Neues wagen“.

Gut 50 Zuhörende ließen sich die Utopie von einer lebenslangen Finanzhilfe vom Staat in den Räumen der Norderstedter Bank erläutern. Straubhaar für sie für „ein Gebot der Stunde“. Nur so sei unsere Marktwirtschaft und das deutsche Sozialsystem zu retten. Der Ökonom und seine Thesen finden Gehör – allein in Norderstedt sprach er schon 15 mal zum bedingungslosen Grundeinkommen, wie er sagte.

Grundeinkommen: Sozialhilfe beenden – dafür fünffaches Kindergeld für alle

Auch wenn die Menschen zurzeit durch die grassierende Inflation und die Energiepreissprünge andere Sorgen hätten, sei die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens aktueller denn je, sagt Straubhaar. Europaweit seien dazu Feldversuche gelaufen. Hierzulande erhalten in einem Pilotprojekt zurzeit 122 von 1500 Teilnehmenden drei Jahre lang jeden Monat 1200 Euro. Erste Zwischenergebnisse erwartet Straubhaar Ende des Jahres.

„Die Leute werden etwas Neues ausprobieren und nicht auf der faulen Haut liegen, wenn sie monatlich dieses Geld ohne ihr Zutun erhalten.“ Das alte Sozialsystem, das der damalige Reichskanzler Otto von Bismarck eingeführt hat, sei längst überholt, glaubt Straubhaar. Zumal es die unteren Lohngruppen überproportional belaste – zugunsten der Besserverdienenden.

Sozialabgaben seien Belastung für die unteren Einkommensgruppen

Straubhaars Thesen sind durchaus umstritten und werden von anderen Ökonomen als Illusion bezeichnet.
Straubhaars Thesen sind durchaus umstritten und werden von anderen Ökonomen als Illusion bezeichnet. © Burkhard Fuchs

Denn wegen der Beitragsbemessungsgrenze müssen nur diejenigen, die bis zu 7000 Euro brutto im Monat verdienen, etwa 40 Prozent ihres Gehalts an Sozialabgaben abführen, wovon der Arbeitgeber knapp die Hälfte trägt. Für alles, was darüber hinaus verdient wird, werden keine Sozialabgaben mehr erhoben. Allerdings steigt der Steuersatz für sie auf bis zu 45 Prozent an, wenn sie mehr als 23.000 Euro brutto im Monat verdienen.

Straubhaar will mit diesem komplizierten, ungerechten und nicht mehr zeitgemäßen System komplett brechen. Sein Vorschlag lautet: Jeder Deutsche bekommt von Geburt an bis zum Tod 1000 Euro monatlich ausgezahlt. Ohne dass er dafür eine Bedürftigkeit nachweisen muss, wie dies zum Beispiel beim Wohngeld oder dem Bürgergeld der Fall ist, das demnächst das Hartz-IV-Arbeitslosengeld ablöst. Auch irgendein Job oder ein Arbeitseinsatz sei dafür nicht zu entrichten.

1000 Euro monatlich – von der Wiege bis zur Bahre

„Es ist wie Kindergeld für alle“, sagt der Ökonom. Dafür müsse von jedem weiteren Verdienst, ob durch Arbeit oder Kapital, die Hälfte als Steuer an den Staat abgeführt werden. Wer also 24.000 Euro im Jahr zu seinem 12.000 Euro Grundeinkommen hinzuverdiene, zahle dieses praktisch durch seine Steuerschuld bereits ab.

Auch jegliche Kapitalerträge oder Aktiengewinne, die in Deutschland nur zu 25 Prozent besteuert werden, würde Straubhaar mit 50 Prozent Steuerschuld belasten. Im Gegenzug fielen sämtliche anderen Sozialleistungen weg. Im Straubhaarschen System gibt es dann weder Sozialhilfe noch Arbeitslosengeld, Bürgergeld, Kindergeld, Invalidenhilfe oder Wohngeld. Nicht einmal die Rente würde es noch geben.

Reichen 1000 Euro im Alter? „Dann zieht doch zusammen!“

Wenn er gefragt werde, wie dann ein alter, gebrechlicher Mensch von 1000 Euro leben, Miete, Krankenkasse, Strom und Heizung zahlen solle, sage er: „Dann zieht zusammen. Macht eine Wohngemeinschaft auf“, sagt Straubhaar. Zu viert hätten sie 4000 Euro im Monat und könnten damit gut auskommen, glaubt er.

Gemeinschaftlich im Alter zu leben, sei ohnehin für die Gesellschaft besser. „Dann muss man aber die richtigen Leute dafür finden“, warf eine Zuhörerin in Norderstedt nachdenklich ein. Linke werfen ihm deshalb vor, der „neoliberale Vernichter“ unseres Sozialsystems zu sein. Bei denen würde zusätzlich zum Grundeinkommen weiterhin Rente und Arbeitslosengeld ausgezahlt, sagte Straubhaar über seine Kritiker.

Grundeinkommen für alle rechne sich unter dem Strich für den Staat

Für Straubhaar steht fest, dass sich das bedingungslose Grundeinkommen für den Staat rechne. Schon würden in Deutschland nach seinen Angaben 1,1 Billionen oder 1100 Milliarden Euro für das Sozialsystem ausgegeben. Wenn alle 84 Millionen Menschen in Deutschland diese 12.000 Euro im Jahr erhielten, würde das rund eine Billion Euro kosten.

Zudem dürfte die höhere Steuerquote von 50 Prozent auf alles die Steuereinnahmen beträchtlich erhöhen. Und die Hunderttausende Arbeitsplätze in den Arbeitsagenturen, Jobcentern und der Sozialverwaltung, die dann ja unnötig wären, dürften dem Staat Zig-Milliarden Euro einsparen.

Steuerquote steigt pauschal auf 50 Prozent

Das wichtigste Argument aber für den Volkswirtschaftler ist die Einstellungs- und Verhaltensänderung, die das bedingungslose Grundeinkommen bei den so alimentierten Menschen auslösen werde. „Heute müssen Sie praktisch jede Arbeit annehmen“, sagte Straubhaar. Künftig würde sich das gravierend ändern. „Die Drecksarbeit übernehmen Roboter.“

Oder die Anbieter dieser „Bullshit-Jobs“, wie sie der Anthropologe David Graeber nannte, müssten sie erheblich besser bezahlen, damit sie auch von Menschenhand erledigt würden. So verdiene jeder Schweizer heute schon mindestens 4000 Franken im Monat, sagte Straubhaar – auch die Pflegekräfte oder Busfahrer, die dort fast das Doppelte wie hierzulande verdienten.

„Bullshit-Jobs“ würden Menschen mit Grundeinkommen nicht mehr machen

Den Arbeitnehmern würde es den Druck nehmen, für ihre Existenzsicherung alles tun zu müssen. Einige wenige würde das vielleicht zum Nichtstun verleiten, sagt Straubhaar, der diese Kritik von Seiten der Wirtschaftsverbände hört. Diese fürchteten, ihnen ginge dann das Personal von allein aus.

Straubhaar selbst bezeichnet sich – ganz der Schweizer – als Anhänger der calvinistischen Arbeitsethik, die durch Fleiß, Selbstdisziplin, Sparsamkeit und Genügsamkeit geprägt ist, und vertrete deshalb die Auffassung, dass sich die Menschen in ihrer freien Wahl in ihrer großen Mehrzahl für kreative Arbeiten und Berufe entscheiden würden, die ihnen liegen und sinnvoll erscheinen.

Grundeinkommen: „Eine zufriedene und innovative Gesellschaft“

„Das würde unsere Gesellschaft nicht nur innovativer, sondern die Menschen auch zufriedener machen“, sagt Professor Straubhaar. Der Fortschritt in diese Richtung sei durch die Digitalisierung und künstliche Intelligenz ohnehin nicht aufzuhalten.

Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts habe sich die Jahresarbeitszeit in Deutschland von 3500 auf aktuell 1332 Arbeitsstunden im Jahr verringert. Und Studien belegten: „Es sind vor allem die Männer und hoch qualifizierten Berufsgruppen, die mehr Freizeit haben möchten.“