Norderstedt. Vor 75 Jahren: Alfred Stern gründet das Norderstedter Amateur-Theater. Als Jude war er zuvor in zwei KZs misshandelt worden.

Er wollte den Menschen nach Deutschlands größter Katastrophe wieder Lebensfreude und Frohsinn ermöglichen – wenn auch nur für ein paar Stunden. Und gründete in Garstedt ein Theater. Ausgerechnet er, Alfred Stern, der als Jude von den Nazis zwei Mal in die KZs Sachsenhausen und Theresienstadt verschleppt und misshandelt wurde. Ausgerechnet er, den die NS-Schergen um Haus und Hof brachten.

Alfred Stern überlebte die NS-Barbarei. Am 8. Mai befreite ihn die Sowjet-Armee aus dem KZ Theresienstadt. Er ging zu Fuß nach Hause zu seiner Frau Elisabeth und seiner Familie – die von den Nazis verschont blieb, weil Elisabeth Christin war.

Theater Norderstedt: Aus „Bunter Abend“ wurde Norderstedts wichtigstes Theater

Alfred Stern, Gründer Norderstedter Amateur-Theater und Vater aller Norderstedter Amateurbühnen.
Alfred Stern, Gründer Norderstedter Amateur-Theater und Vater aller Norderstedter Amateurbühnen. © ARCHIV LENZE

1947 fragte Friedrich Lange, damals Garstedter Bürgermeister, ob Alfred Stern denn nicht mal so etwas wie einen „Bunten Abend“ organisieren könne, um die Menschen auf andere Gedanken zu bringen. Stern aber gründete mit Freunden gleich ein ganzes Theater, die Garstedter Laienspieler, aus denen 1948 die Volksspielbühne Garstedt wurde. Das erste Stück war „Cilly Cohrs“. Der Eintritt wurde mit Eierkohlen und Briketts bezahlt.

Das war 1947. Alfred Sterns Bühne gibt es immer noch – heute als Norderstedter Amateur-Theater (NAT). Das könnte also jetzt, im Jahr 2022, seinen 75. Geburtstag feiern. „Doch die aktuelle Situation, der Krieg Russlands gegen die Ukraine, erlaubt aus meiner Sicht keine große Feier, wir werden aber im kleinen Kreis sowohl für unsere Mitglieder als auch für unsere Zuschauer etwas Kleines veranstalten“, antwortet der derzeitige erste Vorsitzende Thomas Bock auf Abendblatt-Nachfrage.

Peter Stelly, der Puppenspieler, gesellte sich dazu

Szene aus dem Norderstedter Amateur-Theater in den 50er-Jahren, mit Theater-Gründer Alfred Stern (l.).
Szene aus dem Norderstedter Amateur-Theater in den 50er-Jahren, mit Theater-Gründer Alfred Stern (l.). © Norderstedter Amateur-Theater

Mitgründer der Volksspielbühne Garstedt waren Edith und Hans Kölling, ein hervorragender Stepptänzer und einfühlsamer Regisseur, und eine stets bestens aufgelegte Schauspielerin. Auch die unvergessene Ruth von Borstel war dabei, ein Energiebündel, das noch mit gebrochenem Arm die Titelrolle im Weihnachtsmärchen „Die kleine Hexe” spielte.

Etwas später kam Peter Stelly dazu, der Puppenspieler, der später an Aids verstarb und dessen Puppenspielbühne an der Ulzburger Straße 6 von städtischen Planierraupen für einen Parkplatz plattgewalzt wurde, im Zuge des Ausbaus des Ochsenzoll-Kreisels.

Auch die Plattdeutsch-Autorin Christa Heise-Batt stand auf der NAT-Bühne

Weitere herausragende Namen in der 75-jährigen NAT-Geschichte sind Thea Vogler, Rolf Gravemeyer und Arne Wermke, Ehemann der langjährigen Vorsitzenden Angy Wermke. Auch Christa Heise-Batt, vielfach ausgezeichnete Autorin von niederdeutschen Geschichten und Gedichten, stand auf der NAT-Bühne.

„1993 haben wir mit N’ Mann op’n Hoff ein ganz besonderes Stück gespielt, das 1944, in den letzten Kriegsmonaten, auf einem Bauernhof angesiedelt ist, auf den die Nazis einen Ukrainer als Fremdarbeiter einsetzten und ihn dann aber einer Liebschaft mit der Jungbäuerin verdächtigten – ein erschütterndes Stück”, erinnert sich Christa Heise-Batt.

Alfred Stern führte bei 24 Produktionen die Regie

Schauspieler-Ehen wurden geschlossen und auch wieder geschieden, viele Spielerinnen und Spieler brachten gleich ihre ganze Familie auf die Bühne, in die Kulissen und Garderoben, an die Kasse und in den Souffleurkasten.

Auch Alfred Stern, am 6. August 1903 geboren und am 4. September 1985 gestorben, begeisterte seine Familie mit seiner Liebe zur Schauspielerei. Ehefrau Elisabeth, die Töchter Gerda Schmidt und Margot Lenze mit Ehemann Horst Lenze, die Enkeltöchter Gitta Riken und Birgit Bruhns und auch deren Kinder standen auf der NAT-Bühne. Er selbst wirkte in zehn Stücken mit und führte in 24 Produktionen Regie.

Jedes Jahr wurden im Garstedter Hof ein bis zwei Stücke inszeniert

Gerda Schmidt und ihre Schwester Margot Lenze, beide geborene Stern, Töchter von Elisabeth und Alfred Stern.
Gerda Schmidt und ihre Schwester Margot Lenze, beide geborene Stern, Töchter von Elisabeth und Alfred Stern. © Heike Linde-Lembke

Unvergessen auch die temperamentvolle Ruth Röttger. Sie spielte seit 1954 mit Alfred Stern, hat überall angepackt, Rollen gespielt, Requisiten geschleppt, im Souffleurkasten dafür gesorgt, dass Texthänger auf der Bühne aufgefangen werden, und Kostüme genäht. Ihre erste Rolle spielte sie 1954 als 20-Jährige im Stück „De Schelm von Möhlenbrook“.

Unter Alfred Sterns Regie brachte die Volksbühne Garstedt jedes Jahr ein bis zwei neue Stücke auf die Bühne im damaligen Garstedter Hof, darunter 1948 „Unter Geschäftsaufsicht“, 1949 gefolgt von „Hein Butendörp sien Bestmann“ und „Familie Hannemann“, 1950 „Börsenfieber“, 1951 „Revolutschon gegen de Wiewer“. Es wurden immer mehr Premieren, immer mehr Aufführungen, 1953 vier Stücke, 1954 sogar fünf Stücke im Jahr. 1974 gab es sogar sechs Produktionen, weil sich aus der Volksspielbühne eine Kabarettbühne herausbildete, die „Thespisnarren“ um Stückeschreiber und Regisseur Jörg-Peter Hahn.

Kabarettbühne „Die Thespisnarren“ entwickelte sich aus dem NAT

Mit der Gründung der Stadt Norderstedt aus den vier Dörfern Garstedt, Glashütte, Friedrichsgabe und Norderstedt gab sich die Volksbühne den neuen Namen Norderstedter Amateur-Theater. Die Kabarettbühne „Thespisnarren“ war das erste Amateurtheater, das aus dem NAT hervorging. 1993 gründeten einige NAT-Mitglieder, darunter Norbert Tank, Renate und Horst Lüdecke, mit Tanks Theater ihre eigene plattdeutsche Bühne.

„Niederdeutsches Theater ist ein Kulturgut, und das Norderstedter Amateur-Theater hat in dieser Hinsicht mehr zu bieten als professionelle Theater, weil es den gesellschaftlichen Zusammenhalt auf kleinstem Raum fördert”, sagt Kathrin Oehme. Norderstedts Stadtpräsidentin war von 1976 bis 2004 Vorsitzende des Theatervereins.

Saal im Kulturwerk wurde nach Alfred Stern benannt

Daniel Günther, Ministerpräsident Schleswig-Holstein, besuchte das Norderstedter Amateur-Theater im August 2021, in der Theater-Scheune (v. l.): Stefan Wilken, Angy Wermke, Stadtpräsidentin Kathrin Oehme, Thomas Bock, Vorsitzender NAT und Ann-Kathrin Düßler.
Daniel Günther, Ministerpräsident Schleswig-Holstein, besuchte das Norderstedter Amateur-Theater im August 2021, in der Theater-Scheune (v. l.): Stefan Wilken, Angy Wermke, Stadtpräsidentin Kathrin Oehme, Thomas Bock, Vorsitzender NAT und Ann-Kathrin Düßler. © Heike Linde-Lembke

Die Erkenntnis, dass ein Jude das Kulturleben Norderstedts entscheidend geprägt hat, obwohl er vom NS-Regime verfolgt worden war, setzte sich allerdings erst spät durch. 2012 benannte die Stadt den kleinen Saal im Kulturwerk am Stadtpark nach dem NAT-Gründer in Alfred-Stern-Studio. Der Kulturverein Chaverim – Freundschaft mit Israel setzte für ihn in Anlehnung der Stolpersteine für Schoa-Opfer eine Gedenkstele vor seinem ehemaligen Haus am Rosenstieg, das die Nazis dem Juden enteignet hatten.

Heute hat das NAT zirka 80 Mitglieder aller Altersstufen, ist Kulturträger der Stadt Norderstedt, bringt zweimal im Jahr neue Stücke auf die Bühne und in der Adventszeit ein Weihnachtsmärchen. Dringend gesucht ist indes etwas, was sich viele Amateurbühnen wünschen – Mitspielerinnen und Mitspieler, Theaterfreunde, die in allen Bereichen helfen möchten – auf der Bühne, in den Garderoben, Kulissen und an der Kasse, im Souffleurkasten und im Saal.

Theater Norderstedt: Keine große Feier – es wird einfach weiter gespielt

Wenn es auch keine große Feier zum 75. Geburtstag gibt, auch beim NAT gilt „Die Show geht weiter“. Am Donnerstag, 6. Oktober, hat die neue NAT-Produktion „Rosas Revolver“ Premiere im Festsaal am Falkenberg. Das niederdeutsche Lustspiel steht bis Sonntag, 16. Oktober, auf dem Spielplan. Vom 10. bis 13. Dezember spielt das NAT-Ensemble das Weihnachtsmärchen „Bei der Feuerwehr wird der Kaffee kalt“ über die Bühne im Festsaal.