Psychotherapie

„Stell dich nicht so an!“ Wie hochsensible Menschen leiden

| Lesedauer: 8 Minuten
Bianca Bödeker
Hochsensible Menschen werden von anderen oft als empfindlich abgestempelt.

Hochsensible Menschen werden von anderen oft als empfindlich abgestempelt.

Foto: Monique Wüstenhagen / dpa-tmn

Brigitte Brankowitz ist hochsensibel. Wie sie lernte, ihr Wesen zu lieben, und wie sie anderen Betroffenen helfen möchte.

Norderstedt.  „Stell dich nicht so an. Sei nicht so empfindlich. Schaff dir ein dickes Fell an.“ Diese Aussagen kennt sie nur zu gut. Brigitte Brankowitz ist hochsensibel. Hochsensible Menschen haben eine sehr feine Wahrnehmung ihrer Umwelt und verfügen so über eine soziale Hochbegabung.

Die Norderstedterin widmet sich als Heilpraktikerin für Psychotherapie auch dieser Zielgruppe. Hinter ihrer Aufgabe steht eine Mission: „Ich wünsche den hochsensiblen Menschen, dass sie ihren Wesenszug annehmen und lieben lernen.“ Bianca Bödeker hat die 54-Jährige zum Interview getroffen.

Psychotherapie: „Stell dich nicht so an!“ - Wie hochsensible Menschen leiden

Wie zeigt sich Hochsensibilität, Brigitte Brankowitz?

Eines vorweg: Jeder Mensch ist sensibel, nimmt die Umwelt wahr und verarbeitet diese Wahrnehmung. Schon der russische Mediziner Iwan Pawlow hat in wissenschaftlichen Studien festgestellt, dass massive Unterschiede im Nervensystem existieren und ein Teil der Menschen – 15 bis 20 Prozent – objektiv schon eine geringe Stimulation nicht aushalten können. Er nannte dies „transmarginale Hemmung“. Für durchschnittlich Sensible ist es schwer vorstellbar, wie Hochsensible ticken.

Wie ticken sie denn?

Sie haben von Geburt an ein anderes Nervensystem. Die amerikanische Psychologin Elaine Aron hat dazu geforscht und folgende Persönlichkeitsmerkmale definiert: Tiefe Verarbeitung von Informationen (vernetztes Denken); Starke Empfindlichkeit – auch leichte Reize werden tiefer verarbeitet; Leichte Überreizbarkeit des Nervensystems; Starke Gefühlswelt (Himmel hochjauchzend – zu Tode betrübt) und größere Empathie.

Ist Hochsensibilität eine anerkannte Diagnose oder „nur“ eine Persönlichkeitseigenschaft?

Wenn es eine Diagnose wäre, dann wäre es eine Krankheit. Man könnte zum Arzt gehen, ließe sich Tabletten verschreiben und irgendwann wäre es weg.

Hochsensibilität ist ein Teil des Charakters, der die Menschen ein Leben lang begleitet. Genetisch bedingt ist der Abschnitt des Gehirns, der für die Dämpfung der Nervenerregung zuständig ist, schwächer ausgebildet. Im MRT wurde festgestellt, dass bei Hochsensiblen eine erhöhte Aktivität im Thalamus und Hypothalamus vorliegt. Der Thalamus ist ein Filter, das Tor zum Bewusstsein. Er entscheidet, welche Informationen weitergeleitet werden und welche nicht. Bei Hochsensiblen werden weniger Informationen herausgefiltert. Der Hypothalamus steuert das vegetative Nervensystem – er arbeitet bei Hochsensiblen vermehrt. Die Folge ist ein erhöhter Cortisolspiegel, der für Stress zuständig ist.

Gefühle und Sinnesreize werden langsamer verarbeitet

Wie merken Menschen, dass sie hochsensibel sind?

Intuitiv. Hochsensible fühlen sich von Geburt an andersartig, verkehrt. Sie hören oft: „Stell dich nicht so an. Sei nicht so empfindlich. Schaff dir ein dickes Fell an.“ Sie mögen kein Gedränge, sind licht- und geräuschempfindlich. Gerüche machen ihnen massiv zu schaffen. Sie erschrecken sehr leicht, reflektieren ständig, sind ex­trem rücksichtsvoll. Die Stimmungen der Mitmenschen schwappen auf sie über und sie fühlen sich schnell überfordert, weil die intensiven Gefühle und Sinnesreize nicht so schnell verarbeitet werden können.

Sie selbst sind hochsensibel. Erzählen Sie uns davon.

Ich habe alle Schattenseiten erlebt. Wurde als die Komische abgestempelt. Das kratzte an meinem Selbstbewusstsein. Zusätzlich hatte ich eine schwierige Kindheit mit sehr kranken Eltern und dem frühem Tod des Vaters. Zunächst dachte ich, meine Andersartigkeit käme daher. Erst nachdem ich Mutter wurde, bemerkte ich: Meine beiden Töchter empfinden ja genau so wie ich. 2005 erschien das erste Buch von Elaine Aron zum Thema Hochsensibilität. Ich habe es verschlungen und wusste danach endlich: Ich bin hochsensibel.

Sind Hochsensible begabter als andere?

Gemessen am IQ sind wir nicht schlauer oder dümmer als der Rest der Menschheit. Allerdings haben wir eine höhere emotionale Intelligenz. In künstlerischen, sozialen oder therapeutischen Berufen beispielsweise sind vermehrt hochsensible Menschen anzutreffen.

Welchen Herausforderungen müssen sich hochsensible Menschen im beruflichen und privaten Alltag stellen?

Das Großraumbüro ist für jeden Hochsensiblen ein Alptraum. Wie bereits gesagt sind Geräusche, Licht, Gerüche aber auch ständiges Multitasking und permanenter Zeitdruck Gift für einen hochsensiblen Menschen. Ein gutes Betriebsklima ist für ihn wichtig. Privat gilt es, Freizeitstress zu reduzieren. Innezuhalten, die eigenen Bedürfnisse zu erforschen. Und milde mit sich umzugehen.

Hochsensible sind introvertiert und massiv überreizt

Welche Ressourcen können hochsensible Menschen für sich nutzen?

Sie sehen sich oft als Vermittler, weil sie kleinste Stimmungen wahrnehmen, über einen großen Gerechtigkeitssinn verfügen. Sie sind gute Zuhörer und haben einen Blick fürs Detail. Es gibt ja Berufe, wie die Buchhaltung, in denen akribisch gearbeitet werden muss. Hier sind sie gern gesehen. Die meisten Hochsensiblen sind ruhige, ausgeglichene Persönlichkeiten – rund 70 Prozent von ihnen sind introvertiert. Sind sie jedoch massiv überreizt, kann die ruhige Art manchmal schnell ins Gegenteil umschlagen. Musik, Kunst und die Natur können sie tief bewegen. Das gesamte Innenleben ist sehr reichhaltig.

Sie haben die Arbeit mit hochsensiblen Menschen als Teil Ihrer therapeutischen Aufgabe gewählt.

Beruflich war ich zunächst auf die Themen Burnout und Ängste spezialisiert. Irgendwann stellte ich fest, dass viele Hochsensible meine Praxis aufsuchen – das Gesetz der Anziehung. Mir macht die Arbeit Spaß und ich kann gute Ergebnisse erzielen. Ich habe dann noch viele Weiterbildungen zum Thema Hochsensibilität gemacht, Umfragen gestartet und mit den Ergebnissen mein Coaching für hochsensible Menschen entwickelt.

Es enthält die vier Module Erkennen, Annehmen, Strategien entwickeln, Zukunft leben. Ich arbeite ausschließlich ressourcenorientiert und mit Problem-Lösetraining. Mit dem Ziel, dass die Klienten ihre Hochsensibilität als Geschenk ansehen und sie gut in ihren Alltag integrieren können. Das bereitet mir Freude und ist ein Antrieb.

Männer denken an Burnout – dabei ist es Hochsensibilität

Sind mehr Frauen oder Männer hochsensibel?

Die Anteile sind gleich. In meiner Praxis ist es aber so, dass meist nur Frauen zu mir kommen, die offen mit dem Thema umgehen. Der hochsensible Mann passt wohl noch nicht in unser Weltbild. Männer suchen mich auf, weil sie ein Burnout haben. Immer öfter erkennen und thematisieren wir in der Therapie ihre Hochsensibilität.

Mit welchen neuen Gewohnheiten können hochsensible Menschen dauerhaft ihr Leben positiv beeinflussen?

Akzeptieren, was nicht zu ändern ist und ändern, was in meiner Macht steht. Ankämpfen gegen die Schattenseiten bewirkt das Gegenteil. Die schönen Seiten genießen. Entspannung in den Alltag integrieren. Die eigenen Bedürfnisse wirklich erspüren. Sich Zeit für sich allein nehmen. Und auf regelmäßigen Schlaf achten. Ein Dankbarkeitstagebuch führen. Darin täglich alles festhalten, was wert ist, aufgeschrieben zu werden. Wie Begegnungen, Beobachtungen, Momente des Innehaltens. So kommen wir Hochsensible in die Selbstwahrnehmung. Das macht uns auf Dauer zufrieden.

Norderstedt: „Was nicht glücklich macht, kann weg!“

Wie geht es Ihrem Mann mit drei hochsensiblen Damen an seiner Seite?

Für ihn ist unsere Hochsensibilität manchmal anstrengend. Denn wir nehmen all’ seine Stimmungen wahr, die er teils selbst noch nicht bewusst wahrgenommen hat bzw. auch gelegentlich verbergen möchte. Meine Töchter merken sofort, wenn etwas mit mir nicht stimmt. Wir drei brauchen uns in keiner Form zu verstellen, weil wir gleich fühlen. Das hat eine hohe Lebensqualität, denn wir müssen uns nicht immer erklären.

Welches Lebensmotto begleitet Sie auf Ihrem Weg?

Was nicht glücklich macht, kann weg.

Buchtipp: Dr. Elaine N. Aron, „Sind Sie hochsensibel?“, erschienen im Mvg Verlag

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