Kreis Segeberg. Wie ein Netzwerk der Hilfen im Kreis Segeberg versucht, betroffene Jugendliche und ihre Familie aufzufangen.

Anja Andresen weiß aus eigener Erfahrung, wie sich Lebenskrisen anfühlen. Wenn man nicht mehr weiter weiß. Wenn man scheinbar keinen Ausweg findet. Wie man die Schuld für alles bei sich selbst sucht. Wie es verstört, wenn man sich selbst verletzt – wenn man nicht mehr leben möchte. Einen Ausweg sah sie noch – sie suchte und fand Hilfe.

Heute ist sie ehrenamtliche Mitarbeiterin im präventiven Schulprojekt „Verrückt – na und?“ und „Erfahrungsexpertin“. Das sind Menschen, die selbst in psychiatrischer Behandlung waren, eine entsprechende Schulung abgeschlossen haben und jetzt ihrerseits Menschen in Not aus ihren Krisen helfen wollen.

Kreis Segeberg: Psychosen, Panikattacken – Hilfe für kranke Kinderseelen

Sie ist teil eines Netzwerkes im Kreis Segeberg aus weiteren Expertinnen und Experten aus den Kinder- und Jugendämtern, dem Kinderschutzbund, aus Familienbüros, Fachbehörden und -diensten, Organisationen und Initiativen. Anja Andresen will darauf aufmerksam machen, wie vielfältig die Möglichkeiten im Kreis sind, Kindern und Jugendlichen aus Familien mit psychisch erkrankten Mitgliedern zu helfen – wohlwissend, dass das Warten auf Therapieplätze mehr als zermürbend ist und zur Verzweiflung bei den Betroffenen führt.

„Ich teile den Kindern und Jugendlichen meine eigenen Erfahrungen mit, will sie ermuntern, so früh wie möglich Hilfe zu suchen und ihnen zeigen, dass sie nicht allein sind mit dem, was sie durchmachen“, sagt Andresen. Sie erzählt von ihren eigenen Panikattacken und Psychosen und will damit das Tabu brechen, über diese Erkrankungen zu sprechen.

Hemmschwelle, Hilfe zu suchen, ist für manche zu hoch

Das Hilfenetzwerk (v. l.): Erfahrungsexpertin Anja Andresen, Juliane Kokot (Fachdienst Sozialpsychiatrie), Silvia Neeth (Kinderschutzbund Bad Segeberg), Sylvia Hakimpour-Zern (Leitung Fachdienst Sozialpsychiatrie), Sabine Ivert-Klinke (KIS), Bianca Wollmer (Jugendamt Ost), Sena Weiss (Fachdienst Sozialpsychiatrie) und Tanja Böttner-Kürten (Jugendhilfeträger Iuvo).
Das Hilfenetzwerk (v. l.): Erfahrungsexpertin Anja Andresen, Juliane Kokot (Fachdienst Sozialpsychiatrie), Silvia Neeth (Kinderschutzbund Bad Segeberg), Sylvia Hakimpour-Zern (Leitung Fachdienst Sozialpsychiatrie), Sabine Ivert-Klinke (KIS), Bianca Wollmer (Jugendamt Ost), Sena Weiss (Fachdienst Sozialpsychiatrie) und Tanja Böttner-Kürten (Jugendhilfeträger Iuvo). © Heike Linde-Lembke

„Die Angebote zur Hilfe sind da, sie werden aber nicht wahrgenommen“, sagen Juliane Kokot und Sena Weiss, Gesundheitsplanerinnen des Fachdienstes Sozialpsychiatrie und Gesundheitsförderung. Die Hemmschwellen, Beratungsstellen aufzusuchen, seien hoch, und vielfach würden sich die Betroffenen mit „Bei uns ist das nicht so schlimm, wir schaffen das schon“, beruhigen. Weiss und Kokot rufen dringend dazu auf, sich zu trauen und die Angebote anzunehmen.

Sie würden über ein großes Netzwerk verfügen und den Hilfesuchenden die richtigen Ansprechstellen vermitteln können, darunter beispielsweise auch das Projekt „Heldenherzen“, das bereits Kindern im Grundschulalter hilft, die in Familien mit psychisch oder suchtkranken Eltern leben. Rund 9500 Kinder zwischen zehn und 17 Jahren in Schleswig-Holstein leiden an Depressionen und Angststörungen.

Suizid-Gedanken: Lange Wartezeit auf Therapieplatz

Auch Anja Andresen musste lange auf einen Therapieplatz warten: „Ich hatte Suizid-Gedanken und selbstverletzende Tendenzen, erhielt aber viele Hinweise zur Hilfe, darunter auch die Ergo-Therapie.“ Es war ein Anfang, denn endlich sorgte sich jemand um sie.

„Die lange Wartezeit auf Therapieplätze ist ein wunder Punkt, es geht nicht an, dass akut Erkrankte sechs Monate und mehr auf einen Therapieplatz warten müssen“, sagt Dr. Sylvia Hakimpour-Zern. Die Leiterin des Fachdienstes Sozialtherapie und Gesundheitsförderung des Kreises Segeberg sieht das Problem im Privat-Status der Krankenhäuser, die gewinnorientiert arbeiten würden. „Die OP einer Wirbelsäule bringt mehr Geld ein als ein Therapieplatz für eine psychisch erkrankte Mutter“, moniert die Fachärztin.

Die größte Gefahr für die Gesellschaft liegt in der Kindeswohl-Gefährdung

Die größte Gefahr für die Gesellschaft aber sieht die Expertinnenrunde des Kreises in der Kindeswohl-Gefährdung, wenn Familien Krisen durchleben müssen, beispielsweise, wenn Eltern psychisch erkranken oder den Anforderungen des täglichen Lebens nicht mehr gewachsen sind. Das habe in der Corona-Pandemie durch Homeoffice, Homeschooling und einem steten Zusammenleben auf engstem Raum dramatisch zugenommen.

So weise der Kinder- und Jugendreport 2022 der DAK eine spürbare Steigerung von Störungen sozialer Funktionen und eine Zunahme von Entwicklungsstörungen von Kindern bereits im Grundschulalter aus. Bei Schulkindern im Alter zwischen zehn und 14 Jahren nahmen vor allem stationäre Behandlungen aufgrund von Depressionen mit plus 27 Prozent, Angststörungen mit plus 25 Prozent und Essstörungen mit plus 21 Prozent zu.

3,9 Millionen Kinder in Deutschland leben in schwierigen Haushalten

Sylvia Hakimpour-Zern weist daher auf das Netzwerk von Akteurinnen hin, die sich untereinander austauschen, ihre jeweiligen Kompetenzen und Angebote kennen und Hilfesuchende sofort entsprechend weiterleiten könnten. „Unser Ziel ist es, die Hemmschwelle von Kindern, Jugendlichen und deren Familie abzubauen und sich Beratung und Hilfe bei uns zu holen“, sagt Dr. Sylvia Hakimpour-Zern. „3,9 Millionen Kinder in Deutschland leben in schwierigen Haushalten“, nennt sie eine erschreckende Statistik.

„Durch unser Netzwerk können wir schnell reagieren und die betroffenen Familien direkt besuchen, statt dass sie uns aufsuchen müssen, denn da ist die Hemmschwelle sehr groß“, sagt Sabine Ivert-Klinke von der Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfe (KIS). Die Frage sei immer, was welche Familie in welcher Lebenslage brauche, vor allem jetzt, weil „psychische Erkrankungen enorm zunehmen“ würden.

Psychische Probleme: Jeder 3. Jugendliche bräuchte Hilfe

„Jeder dritte Jugendliche bräuchte Hilfe, und schon Grundschulkinder leiden unter einem enormen Druck“, sagt Sabine Ivert-Klinke und weist darauf hin, dass Kinder auch ohne das Wissen ihrer Eltern zu KIS kommen können: „Das ist das verankerte Recht der Kinder.“ Es gehe nicht um Schuldgefühle und Anklage, sondern um die seelische Gesundheit in der Familie. Stress und die ständig wachsende Schnelligkeit des Alltags würde immer mehr Familien überfordern.

Sylvia Hakimpour-Zern will den Familien auch die Angst nehmen, sich an eine Beratungsstelle zu wenden: „Wir gucken bei den Betroffenen direkt vorbei, sprechen mit den Angehörigen, wir sind Helfende und wollen psychisch erkrankte Eltern unterstützen, damit sie wiederum ihren Kindern Gutes tun können.“

Netzwerk geht mit Angeboten direkt in Kitas und Schulen

Wenn es aber denn doch Zuhause nicht mehr geht, weist Tanja Böttner-Kürten, Bereichsleiterin des Segeberger Jugendhilfeträgers „Iuvo“, daraufhin, dass es für „besondere Kinderbedarfe“ auch stationäre Angebote gebe, falls die Kinder und Jugendlichen Zuhause nicht mehr leben könnten. „Sie sollen gesundet ihr Leben gestalten können“, sagt Böttner-Kürten.

„Wir wollen die Betroffenen dort treffen, wo sie leben und Kindern aus der Klemme helfen, beispielsweise, wenn die Eltern sich trennen und die Kinder nicht weiter wissen“, sagen Sena Weiss und Juliane Kokot, die auch Erziehungsberatung und Hilfe bei sexualisierter Gewalt anbieten und mit ihren Programmen und Angeboten direkt in die Kitas und Schulen gehen.

Kreis Segeberg: Es ist wichtig, sich früh Hilfe zu holen

Sie wollen informieren und vermitteln, dass Hilfe annehmen kein Zeichen von Schwäche ist: „Wer sich Hilfe holt, zeigt Stärke, weil das Problem erkannt worden ist“, sagen Weiss und Kokot. „Kinder vermissen bei erkrankten Eltern oft Zuneigung, und die kranken Eltern sehen sich einem hohen Leistungsdruck ausgesetzt, die Folge sind Angst und Depressionen“, weiß auch Anja Andresen. Und: „Es ist wichtig, sich früh Hilfe zu holen, damit die Verläufe nicht so schlimm werden.“

Kathrin Geyer, Projekt-Koordinatorin des Schulprojekts „Verrückt – na und?“ berichtet von ganztägigen Projekttagen an den Schulen: „Wir klären Kinder, Lehrkräfte und Eltern auf und fordern, dass sich Schule mehr mit der seelischen Gesundheit der Kinder und Jugendlichen auseinandersetzt, damit sie immer wissen, sie sind nicht allein.“