Kultur

Norderstedt: Ein Kulturträger pflegt das russische Volkslied

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Heike Linde-Lembke
Der Chor „Ivuschka“ bei einem Auftritt in Norderstedt: Die Sängerinnen und Sänger stammen aus Russland, aber auch aus anderen osteuropäischen Staaten.

Der Chor „Ivuschka“ bei einem Auftritt in Norderstedt: Die Sängerinnen und Sänger stammen aus Russland, aber auch aus anderen osteuropäischen Staaten.

Foto: Heike Linde-Lembke

Der russische Chor „Ivuschka“ wird jetzt mit Steuergeld gefördert. Warum das richtig und wichtig ist.

Norderstedt.  Der Antrag des Norderstedter Chores „Ivuschka“ („Das Weidenbäumchen“) an den Kulturausschuss der Stadt Norderstedt barg Stoff für eine Kontroverse: Inmitten des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine bewirbt sich ein Chor mit russischstämmigen Sängerinnen und Sängern, die unter anderem das russische Volkslied pflegen, um den Status als Kulturträger der Stadt Norderstedt – und damit um Unterstützung durch den deutschen Steuerzahler. In den Ohren mancher wirkt das wie eine Provokation.

Die Sängerinnen und Sänger werden in Sippenhaft genommen

Doch der Kulturausschuss erkannte in seiner jüngsten Sitzung den Chor „Ivuschka“ als 34. Kulturträger der Stadt Norderstedt an. Einstimmig. Wer nachhakt bei den Sängerinnen und Sängern des Chores, erkennt, wie richtig und wichtig die Anerkennung als Kulturträger ist. Denn die Sängerinnen und Sänger des Chores sehen sich zu Unrecht Anfeindungen ausgesetzt – nur weil sie russischstämmig sind und unter anderem russische Lieder singen. Sie werden in Sippenhaft genommen aufgrund Putins Aggression.

Nun ist „Ivuschka“ offiziell der 34. Kulturträger der Stadt Norderstedt. Damit wird der gemischte Folklore-Chor vom Kulturamt der Stadt vielfach unterstützt, beispielsweise mit mietfreien Räumen zum Proben, Treffen und für Konzerte, etwa im Kulturwerk und im Festsaal am Falkenberg. Auch für Honorare, zum Beispiel für Chorleiterinnen und -leiter, für Veranstaltungswerbung bis hin zu Fortbildungs- und Reisekosten übernimmt die Stadt einen Teil der Kosten. Als Kulturträger hat „Ivuschka“ im Gegenzug von nun an die Aufgabe, die Kultur und Bildung der Stadt zu bereichern und eine positive Außenwirkung zu erzielen.

Alle im Chor haben den deutschen Pass und lehnen den Krieg ab

Anforderungen, die der 2014 gegründete Chor allemal erfüllt. Er war in den vergangenen Jahren bei vielen öffentlichen Veranstaltungen wie dem Kulturträgertag, dem Europafest und Chortreffen in Norderstedt präsent und erhielt für seine Auftritte in pittoresken Kostümen viel Applaus. „Ivuschka“ war bislang ein russischer Chor, der russisches, aber auch ukrainisches und anderes osteuropäisches Liedgut pflegte. „Ivuschka“ hat sich Anfang März nach langer Diskussion in „Deutsch-russischer Chor Ivuschka“ umbenannt. „Wir haben alle einen deutschen Pass, wir singen auch gerne deutsche Volkslieder, und deshalb haben wir beschlossen, uns deutsch-russischer Chor zu nennen“, sagt Anna Richter, Vorsitzende des gemischten Chores. Ausdrücklich verweist die Sängerin darauf, dass im Chor auch ukrainische Sängerinnen und Sänger Mitglied seien, dass neben deutschen und russischen auch ukrainische Lieder gesungen werden.

Nach ihren Angaben ist der Chor ein bemerkenswertes Nationen-Gemisch mit Mitgliedern aus der Ukraine und Russland, aus Aserbaidschan und Bulgarien, Kasachstan, Kirgisistan, Litauen und Deutschland, darunter auch Jüdinnen und Juden. Eines aber eint alle – der deutsche Pass. Die meisten der Sängerinnen und Sänger kamen Anfang der 90er-Jahre als Aussiedler und Mitte der 90er-Jahre als Kontingent-Flüchtlinge nach Deutschland. Anna Richters Familie kommt beispielsweise aus Kirgisistan, ihr Ehemann aus Kasachstan.

Manche bekommen Schmähbriefe

Eine, die den Chor schon lange kennt, ist Margot Bankonin, Sängerin in einigen Norderstedter Chören und auch Vorsitzende des Städtepartnerschafts-Vereins „Freunde von Kohtla-Järve und Johvi und Umgebung“. „Ivuschka ist ein fantastischer Chor, und die Mitglieder haben alle mit Putin gar nichts am Hut“, sagt Margot Bankonin. Einige hätten jetzt Droh- und Schmähbriefe erhalten. Darin stünde sinngemäß, sie hätten nun 30 Jahre in Deutschland schmarotzt und sollten jetzt endlich wieder nach Russland verschwinden.

„In Russland waren wir deutsche Faschisten, hier sind wir jetzt plötzlich die Russen, sagen viele von ihnen“, erzählt Bankonin. Viele Mitglieder seien Deutsch-Russen aus Sibirien, deren Vorfahren von Katharina der Großen dort angesiedelt wurden und die in den 90er-Jahren als Aussiedler zurück nach Deutschland kamen. Beispielsweise Maria Fokin. Sie wurde in Sibirien geboren, wuchs 1970 in Wolgograd auf und kam als 17-Jährige mit ihren Eltern nach Deutschland. „Ich bin in Sibirien in einem Dorf, in dem Ukrainer lebten, geboren“, erinnert sie sich. „Der Überfall Russlands auf die Ukraine ist einfach schrecklich und muss dringend beendet werden“, fordert Maria Fokin.

„Wir sind alle gegen den Krieg“, sagt Anna Richter. Er würde die Mitglieder stark beschäftigen, weil nahezu alle von ihnen Bekannte, Freunde und Verwandte im Kriegsgebiet hätten. „Wir lachen und weinen zusammen und hoffen, dass es bald zu Ende ist“, sagt Anna Richter.

25 Mitglieder zählt der Chor zurzeit, 21 Frauen und vier Männer. Die älteste Sängerin ist die 85-jährige Rima, Jüdin aus Wladiwostok am Pazifik in Sibirien, die jüngste ist die 32-jährige Olga aus der Ukraine. Begleitet werden die Konzerte von Klavier, Akkordeon und – Holzlöffeln.

In der Norderstedter Politik ist die Anerkennung als Kulturträger unumstritten

In der Norderstedter Politik war die Anerkennung des Chores als Kulturträger unumstritten. „Wir haben die Anerkennung aufgrund der Empfehlung der Verwaltung beschlossen und die Entscheidung nicht als Politikum gesehen“, sagte SPD-Stadtvertreter Emil Stender. Der Vorsitzende des Kulturausschusses ergänzt, dass die Chor-Mitglieder aus Norderstedt und Umgebung kämen und das kulturelle Leben der Stadt bereicherten.

„Wir haben vorher in den Fraktionen über die Anerkennung beraten und wollten aufgrund der geopolitischen Situation keine öffentliche Diskussion im Kulturausschuss, denn diejenigen, die im Chor aktiv sind, haben mit Putins Überfall auf die Ukraine nichts zu tun“, sagte CDU-Stadtvertreter Friedhelm Voß.

„Die Anerkennung ist völlig in Ordnung“, sagte auch Rolf Möller, Stadtvertreter der Linken. „Der Kulturausschuss ist kein politischer Ausschuss, wir kümmern uns um Kultur und haben das Thema deshalb nicht ausgedehnt“, sagt auch CDU-Stadtvertreter Peter Gloger.

Der „Deutsch-russische Chor Ivuschka“ sucht Sängerinnen und Sänger. Geprobt wird immer freitags von 19.30 Uhr an im Gemeindehaus der Paul-Gerhardt-Kirche am Alten Buckhörner Moor.

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