Man tendiert ja leicht zur Annahme, selbst wirklich schreckliche Probleme zu haben. Zumal in diesen Zeiten, da sich sämtliche Leute gegenseitig darin bestätigen, dass gerade alles so furchtbar schwer und kaum noch auszuhalten ist. Ich kann gar nicht mehr zählen, wie oft ich in den letzten Wochen politisch führende Personen öffentlich verkünden hörte, die gegenwärtige Krise sei die mit Abstand schlimmste seit dem Zweiten Weltkrieg. Grund genug, sich mal so richtig als Opfer zu fühlen auf dem Sofa bei der „Tagesschau“.
Und gleichzeitig schon wieder so ein bisschen abartig stolz. Nach dem Motto: „Jetzt machen wir auch unser epochales Desaster durch und können endlich mitreden, wenn die Super-Oldies von Bomben, Schützengräben und Steckrübenwinter schwadronieren.“ Schluss mit dem Image von den verwöhnten Weichei-Generationen, von den verzärtelten Konsum-und-Digital-Kids der Moderne. Wir sind jetzt krisenerprobt, mit allen Wassern gewaschen, ganz harte Typen.
Ich gebe zu, bei mir selbst manchmal Anflüge solch bornierter Selbstüberhöhung zu registrieren. Zum Glück holte mich ein Beitrag dieser Lokalredaktion jetzt umgehend auf den Boden der Realität zurück.
Es ging um die Erlebnisse von Flüchtlingen, die mittlerweile in Norderstedt leben und hier eine neue Heimat fanden. Beispielsweise Habibola Samadi. Er ist 30 Jahre alt, kam 2014 zu Fuß aus Afghanistan, kannte niemanden in Deutschland und sprach kein Wort Deutsch. Um möglichst schnell die Sprache zu lernen, sprach der einsame Herr Samadi in Norderstedt auf der Straße beliebige Menschen an und fragte sie, ob er sie ein Stück begleiten dürfte, damit sie sich etwas unterhalten könnten.
Ich gestehe, die Vorstellung solcher Szene trifft mich ins Herz. Mal abgesehen davon, dass es viele von uns (inklusive meiner Person) vermutlich gar nicht erst zu Fuß bis nach Afghanistan schaffen würden: wer von uns würde es fertig bringen, in Kabul, Kandahar oder Herat wildfremde Leute anzuquatschen, um deren offizielle Amtssprache Paschto zu erlernen?
Und das mit der Sprache ist sogar noch Pillepalle gegen Samadis größtes Dilemma. Seine Frau und die beiden Kinder blieben in Afghanistan zurück – und nun drohen die Taliban mit Konsequenzen für die Familie, sollte Samadi nicht demnächst selbst zurückreisen.
Ja, wir haben Probleme. Aber andere erst recht. Und ein Problem zum „GröPaZ“ (Größtes Problem aller Zeiten) aufzublasen, darf nie dazu führen, die Probleme dieser anderen zu übersehen.
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