Norderstedt. Politiker gehen mit ungutem Gefühl in Sitzungen. Kritik an der Stadtverwaltung, weil digitale Infrastruktur immer noch nicht steht

In Kaltenkirchen, Bad Bramstedt und in vielen anderen Städten und Gemeinden Schleswig-Holsteins wurden die Sitzungen der Kommunalpolitik angesichts der Dynamik der Corona-Pandemie bereits aus den Sälen in den virtuellen Raum verlegt. Doch in Norderstedt, das mit seinem Glasfasernetz und seinem städtischen Kommunikationsanbieter wilhelm.tel gerne seine Vorreiterrolle in der Digitalisierung des öffentlichen Lebens unterstreicht, gab es politische Sitzungen seit Ausbruch der Pandemie im Frühjahr 2020 noch nie online. Jetzt ist unter Stadtvertretern eine Diskussion über die Sitzungen entbrannt. Manche wollen gar keine Zusammenkünfte mehr im Rathaus, andere sind unzufrieden mit der Stadtverwaltung, die es seit Monaten versäumt habe, einen digitalen Sitzungsdienst aufzubauen. Die Stadt kündigte unterdessen einen digitalen Testlauf im Februar an.

Derzeit ist der Sitzungskalender der Stadtvertretung noch gut bestückt mit Terminen, sind der Plenarsaal und der Große Saal der "TriBühne" gut gebucht für die politische Willensbildung. Einige Stadtvertreter aber haben längst kein gutes Gefühl mehr dabei, wenn sie sich regelmäßig in Ausschusssitzungen oder in der Stadtvertretung mit ihren politischen Kollegen und einer unbestimmten Menge an Bürgerinnen und Bürgern in einem Raum befinden - auch wenn die Stadt ausreichende Abstände, gute Lüftung, Desinfektionsmittel und alle anderen Kriterien eines Corona-Hygienekonzeptes gewährleistet.

"Ich fühle mich aktuell nicht sehr wohl in öffentlichen Sitzungen, auch wenn wirklich alles versucht wird, um die Sitzungen so sicher wie möglich zu gestalten", sagt etwa Nicolai Steinhau-Kühl, SPD-Fraktionschef. Peter Holle von der CDU spricht von einem "sehr unguten und unsicheren Gefühl". Holles CDU-Kollege Patrick Pender ist voller Unverständnis, dass in Norderstedt überhaupt noch Sitzungen angesetzt werden. Mit Blick auf die Tagesordnungen vermag Pender keine wirklich dringenden Themen zu erkennen, die Sitzungen nötig machen würden. Für ihn hat die Politik im Lockdown eine Vorbildfunktion. "Die Tatsache, dass die Ausschüsse weiterhin stattfinden, ist bei vielen Bürgern auf Verständnislosigkeit gestoßen", teilt Pender mit. Er habe in sozialen Medien den Vorwurf „Wasser predigen und Wein trinken“ gelesen. "Mir haben auch Bürger per E-Mail ihren Unmut kundgetan." Die CDU-Ausschussvorsitzenden Uwe Matthes (Stadtwerkeausschuss) und Petra Müller-Schönemann (Jugendhilfeausschuss) haben ihre Sitzungen bereits abgesagt. Das fordert Pender nun auch von Nicolai Steinhau-Kühl, der dem Ausschuss für Stadtentwicklung und Verkehr vorsitzt. Das Gremium tagt laut Sitzungskalender am Donnerstag, 21. Januar, abends.

Es gibt indes auch andere Stimmen. Abgeordnete wie Thomas Thedens (Freie Wähler und Demokraten) oder Christian Waldheim (AfD) haben keinerlei Bedenken, die Sitzungen weiterhin abzuhalten. "Ich gehe mit einem guten Gefühl in Sitzungen", sagt Thedens. "Es halten sich alle Teilnehmer konsequent und strickt an die Sicherheits-und Hygienevorschriften. Die Sitzungen werden so kurz wie möglich gehalten und einige Sachthemen sogar per interfraktioneller Videokonferenz vorbesprochen." Christian Waldheim sieht keinen Grund zur Panik und hat unter Einhaltung der Hygieneregeln kein Problem mit Präsenzsitzungen. Würden sie ausfallen, wäre Waldheim besorgt. Demokratie lebt insbesondere vom direkten Austausch von Argumenten, Meinungen und Gegenmeinungen. Videokonferenzen mögen dies nicht leisten können."

Das sehen andere Stadtvertreter ganz anders. "Dass die Willensbildung in Norderstedt nicht über andere Medien möglich ist, zeigt das katastrophale Versagen der öffentlichen Verwaltung, rechtzeitig in digitale Infrastruktur zu investieren. Ob das Schulen, Gesundheitsämter oder eben die regionale Verwaltung ist", sagt Peter Holle (CDU). Tobias Mährlein, Fraktionschef der FDP fragt sich: "Warum können wir nicht online?" Die rechtlichen Voraussetzungen für Online-Sitzungen seien spätestens mit der Änderung der Norderstedter Hauptsatzung am 8. Dezember 2020 in der Stadtvertretung geschaffen worden.


"Und für die technischen Voraussetzungen hat es schon viele Beschlüsse gegeben", sagt Mährlein. Etwa am 26. Mai 2020, als die Stadtvertretung einen Prüfauftrag der FDP-Fraktion für einen Livestream der Sitzungen der Stadtvertretung mit großer Mehrheit im Hauptausschuss beschlossen hatte. Am 23. November folgte, ebenfalls auf Antrag der FDP, im Hauptausschuss ein Prüfantrag für ein digitales Abstimmungssystem. "Und was ist seither geschehen?", fragt Mährlein. "In unserer Wahrnehmung ist seit dem ersten Lockdown nicht viel passiert. Und es ist wirklich traurig, wie weit wir den technischen Möglichkeiten hinterher sind. Und das bei dem großen Vorteil, den wir doch durch wilhelm.tel in dieser Stadt haben. Aber vielleicht wurde ja auch im Hintergrund ganz viel gearbeitet, das Ehrenamt weiß nur noch nichts davon?"

Tatsächlich teilte Oberbürgermeisterin Elke Christina Roeder im Hauptausschuss am Montag mit, dass nun für die Sitzung des Hauptausschusses am 8. Februar ein Testlauf für die erste digitale Sitzung in der Geschichte der Norderstedter Kommunalpolitik geplant sei. Wie Stadtsprecher Bernd-Olaf Struppek bestätigte, würden sich derzeit Kolleginnen und Kollegen aus dem Hauptamt mit anderen Kommunen austauschen, darunter insbesondere Kaltenkirchen und Pinneberg. Man sei sich noch nicht sicher, welche Technik und welche Video-Programme dabei zum Einsatz kommen. "Aus Sicht der Stadt ist es natürlich grundlegend wichtig, dass der Ablauf der digitalen Sitzungen gemäß der Datenschutzrichtlinien erfolgt und in allen anderen Fragen rechtskonform ist", sagt Struppek.

Offenbar ist geplant, dass im Rathaus lediglich der Ausschussvorsitzende Peter Holle sowie die Vertreter der Verwaltung erscheinen. Die Ausschussmitglieder sollen zugeschaltet werden. Wenn Bürger aktiv, also mit einer Stellungnahme oder Frage an der Sitzung teilnehmen wollen, müssen sie ebenfalls ins Rathaus kommen.

Für einige Stadtvertreter liegt hier das Problem. "Schwierigkeiten dabei sind die Beteiligung der Öffentlichkeit und die Herstellung des nicht öffentlichen Teils der Ausschüsse, beziehungsweise der Stadtvertretung. Der letzte Punkt stellt die größte Schwierigkeit dar, für den derzeit auch der Bund keine Lösung hat", sagt Thomas Thedens. Auch Nicolai Steinhau-Kühl (SPD) sieht technisch keine Lösung, die Öffentlichkeit an einer digitalen Sitzung als Zuschauer angemessen teilnehmen zu lassen. "Deswegen müssen die Sitzungen - auf das nötigste beschränkt - leider im Rathaus stattfinden."

Auch Christian Waldheim sieht die Beteiligung des Bürgers an den Sitzungen als nicht abschließend geklärt und technisch umgesetzt. "So lange das so ist, ist eine Durchführung von Präsensveranstaltungen zwingend notwendig. Wir werden sicherlich nicht zustimmen, wenn die Bürger zwecks Teilnahme ins Rathaus kommen müssen, während kommunale Mandatsträger im Wohnzimmer sitzen."