Wenn irgendwann einige Corona-Beschränkungen gelockert werden, ergeben sich ganz neue Möglichkeiten – glaubt Kolumnist Jan Schröter.

Wenn irgendwann – vielleicht ja sogar bald – einige Corona-Beschränkungen gelockert werden, ergeben sich ganz neue Möglichkeiten. Zum Beispiel ist geplant, bei Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln allen Reisenden vorzuschreiben, einen kombinierten Nase-Mund-Kinnschutz zu tragen. Darauf warte ich schon lange. Endlich werde ich mit der vom Nachbarn ausgeliehenen Monatskarte exzessiv das Gesamtnetz des ÖPNV ausreizen können, ohne zu riskieren, beim Schwarzfahren ertappt zu werden. Denn durch die Gesichtsmaske hindurch erkennt sowieso kein Fahrkartenkontrolleur, dass ich nicht der Typ auf dem Foto bin.

Bevor mich die Bahn jetzt zur Rasterfahndung ausschreibt: Natürlich werde ich nicht das Fahrgeld prellen. Als personifiziertes Leibgericht aller Coronaviren (alter Sack, mit Vorerkrankungen mariniert) werde ich mir die Fortbewegung in öffentlichen Verkehrsmitteln verkneifen – und zwar noch lange, nachdem die meisten anderen wieder uneingeschränkt unterwegs sein sollten. Wobei: Vielleicht will bald keiner mehr raus. Da draußen tut sich nämlich was. Es braut sich eine Szenerie zusammen wie im ersten Drittel eines Katastrophen-Blockbusters unter der Regie von Lothar Emmerich, und zwar weltweit. Da draußen, das ist nämlich nicht mehr unsere Welt, in der der Homo sapiens das Sagen hat. Dort regiert jetzt der Dschungel. Ein paar Wochen Ausgangssperre haben gereicht. Schon sichtet man Affenhorden in Neu-Delhi, Pumas in Santiago de Chile. Durch San Francisco streifen Kojoten, durch Madrid Wölfe. Aus Barcelona berichtet man von Wildschweinrudeln in Fußgängerzonen, Tel Aviv machen Schakale unsicher. Der absolute Gipfel dieser Horrormeldungen kommt aus Venedig. Dort kehren tatsächlich FISCHE in die Kanäle der Lagunenstadt zurück. Fische. Im Wasser von Venedig, als Biotop vor Kurzem noch ähnlich tot wie die Rückseite des Mondes. Es handelt sich zweifellos um eine Art keimresistenter Mutantenflosser, die nur darauf warten, dass ein chiantibeschickerter Tourist aus der Gondel kippt, um ihn in Sekundenschnelle sauber zu skelettieren. Und fühlen Sie sich nicht zu sicher, nur weil wir meerumschlungen geschützt im Nordzipfel der Republik wohnen. Ostersonntag auf der Wiese vor meinem Garten: sieben Störche, zwei Reiher, drei Rehe. Alle auf einmal. Am helllichten Tag. Und dabei war die Flasche mit dem Eierlikör erst halbleer. Montag: drei dicke Fasanenhennen unmittelbar vor meiner Terrasse, unter der Futterstation für Singvögel. Dabei können Fasanenhennen nicht mal singen. Heute Morgen rückte die Apokalypse noch näher. Ich schiebe den Vorhang vor der Terrassentür beiseite und stehe Auge in Auge mit einem kapitalen Bussard, der auf einem unbepflanzten Pflanzkübel hockt und mich mit einem Blick mustert, der vor Selbstbewusstsein strotzt. Dies ist mein Reich, signalisiert er, und du bleibst schön in deinem Käfig, Mensch.