Henstedt-Ulzburg. Wenn dieser VW-Bus erzählen könnte… Unauffällig steht er im Vorgarten, blassblau, von den vielen Jahren auf den Straßen schon etwas mitgenommen. Aber immer noch kernig. 500.000 Kilometer hat er auf dem Buckel. In den 18 Jahren seiner Existenz hat er ein neues Herz bekommen und musste ein paar Bypass-Operationen über sich ergehen lassen. Insgesamt jedoch ist er ein zuverlässiges Exemplar – und überdies ein echter Medienstar: Mit diesem Fahrzeug reist der Henstedt-Ulzburger Buchautor, Journalist und Abendblatt-Kolumnist Oliver Lück quer durch Europa, um Geschichten einzusammeln. Als Mittel-, Hinter- und Vordergrund, als Kulisse und Stativ macht der Bulli dabei eine gute Figur und erfüllt seinen Zweck. Dieses Auto ist längst ein Familienmitglied.
Wenn sich Oliver Lück hinter das Steuer setzt und losfährt, hat er immer ein bestimmtes Ziel: Zeit, die er mit Menschen unterschiedlicher Kulturen verbringt. „Zeit als Ziel“ ist denn auch der treffende Titel seines neuen Buches, das vor wenigen Tagen erschienen ist. „Seit 20 Jahren im Bulli durch Europa“, so der Untertitel des vierten Lück-Buches, das erstmals als opulenter Bildband herausgegeben wurde.
Oliver Lück, Jahrgang 1973, lädt seine Gäste bisweilen ein, im blauen Bulli Platz zu nehmen. So muss es sein: Ein kleiner Hauch von Abenteuer umweht jeden, der sich auf die hemdsärmelige Atmosphäre einlässt. Der Gastgeber sieht genauso aus wie der Prototyp eines Weltenbummlers. Längeres Haar, angedeutetes Bärtchen, kurze Hosen, locker und entspannt drauf – und ein guter Zuhörer. Was treibt einen Mann in den mittleren Jahren an, ein solches Leben zu führen? Immer unterwegs, immer auf zu neuen Zielen?
Lück spricht mit Menschen, die etwas zu erzählen haben
Der Eindruck täuscht. Natürlich ist Oliver Lück ein Reiseautor, der sich seine Ziele selbst steckt und selbst entscheidet, wann er auf Tour geht. Aber im Kern ist er ein Familienvater, der auch die häusliche Geborgenheit schätzt. Ehefrau, Kinder, eine behagliche Wohnung im großen elterlichen Haus. Zurzeit steht die Renovierung eines eigenen Häuschens in Sievershütten an. Die Verhältnisse sind also wohlgeordnet. Dieser Familienvater aber verdient sein Geld nicht im Büro oder in der Werkstatt, sondern mit seinen Reisen quer durch den Kontinent – und mit seinen vielen Lesereisen. Mehr als 400-mal hat Oliver Lück aus seinen bisherigen drei Büchern öffentlich vorgelesen, hat seine Fotos gezeigt und mit Lesern gesprochen. Neben dem Verkauf der Bücher ist das eine wichtige Einnahmequelle.
Mit seinem neuen Buch „Zeit als Ziel“ wird es nicht anders sein. Es ist eine Essenz aus seinen Reisen in 30 Länder, die er in 23 Jahren mit seinem Bulli und zum Teil mit seinem inzwischen verstorbenen Hund Locke bereist hat. Oliver Lück hat sich gründlich umgesehen in Europa, hat mit Menschen gesprochen, die etwas zu erzählen haben und deren Behausungen weit abseits der Touristenpfade und viel befahrenen Straßen liegen. Eine Geschichtenerzählerin in Irland, Betreiber eines Kuhaltersheimes im Wesermarschland, Chillibauern im Baskenland, der Strandvogt von Bornholm. Manchmal sind es Menschen, die er beschreibt, manchmal auch Landstriche oder Naturphänomene.
In fünf Kapiteln hat er sein Fotobuch unterteilt: Europa ist „bunt“, „wild“, „weit“, „laut“ und „kult“. Laut ist das Roskilde-Festival, das Fußballstadion in Barcelona, aber für ihn ist auch das ehemalige Konzentrationslager Auschwitz laut. „Es ist laut in mir“, sagt Oliver Lück. Es kommt immer auf den Standpunkt des Betrachters an.
Kult ist für ihn ein Sängerfest in Riga mit 50.000 Menschen, die gemeinsam singen, oder der TV-Sender in einem winzigen lettischen Dorf. Wild ist ein Urwald an der Grenze von Polen und Weißrussland. Bunt ist die Vielfalt Europas, weit der Blick ins Unendliche, wobei wieder der Bulli als Vordergrund, als Mittel- oder dezenter Hintergrund ins Bild gerückt wird. Die grünen Hügel Schottlands kontrastieren mit der weiten Landschaft der Hallig Langeneß. Aber auch Menschen, die weit im Denken sind, spielen eine Rolle in dem Buch. Wie zum Beispiel eine schwedische Biologin, die menschliche Leichname mit einer fundierten wissenschaftlichen Methode zu Humus verarbeiten will.
In dem Buch gibt es keine mit Photoshop geschönten Bilder
140 kurze, manchmal ganz kurze, Geschichten und 250 Fotos, die alle selbst eine Geschichte erzählen, sind in dem Buch verarbeitet. Betrachter bekommen übrigens keine mit Photoshop geschönten Bilder zu sehen. Eine Profi-Spiegelreflexkamera mit zwei Objektiven (50 und 24-70 Millimeter Brennweite), vor allem ein gutes Auge und das untrügliche Gefühl für spannende Momentaufnahmen reichen, um Europa in seiner ganzen Vielfalt abzubilden. „Das Buch soll überraschend sein“, sagt Oliver Lück. „Es ist nichts chronologisch geordnet.“ Bis zu 100 Lesungen stehen in den nächsten Monaten im Lückschen Terminkalender. Und danach? Erst einmal kein neues Buch, aber das Reisen lässt den Noch-Henstedt-Ulzburger natürlich nicht los. Geführte Wohnmobiltouren, organisiert zusammen mit zwei Partner-Unternehmen, stehen auf dem Programm. Die erste Reise führt nach Südschweden. Mitreisende können garantiert etwas erleben: Oliver Lück wird ihren Blick schärfen und ihn auf Details lenken, die im Touristenalltag vermutlich im Verborgenen bleiben. „Reisen hat etwas mit Genuss zu tun tun“, sagt Oliver Lück. „Jeder erlebt dabei etwas, das unvergessen bleibt.“
Gut möglich übrigens, dass daraus ein neues Buch entsteht. Vielleicht auch nicht. Wer weiß das schon. Oliver Lück lässt alles entspannt auf sich zukommen.
„Zeit als Ziel. Seit 20 Jahren im Bulli durch Europa“, 320 Seiten, 250 Fotos, 140 Kurzgeschichten. Conbook-Verlag, 24,95 Euro. ISBN 978-3-95889-245-3. Von Oliver Lück sind bisher erschienen: „Flaschenpostgeschichten: Von Menschen, ihren Briefen und der Ostsee“, „Buntland: 16 Menschen – 16 Geschichten“ und „Neues vom Nachbarn: 26 Länder – 26 Geschichten“.
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