Norderstedt

Ulzburger Straße wird zum Kunst-Projekt

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Andreas Burgmayer
„Spüren Sie den Raum!“: Kunststudenten der Medical School Hamburg und Gäste in der ehemaligen Apotheke an der Ulzburger Straße 310

„Spüren Sie den Raum!“: Kunststudenten der Medical School Hamburg und Gäste in der ehemaligen Apotheke an der Ulzburger Straße 310

Foto: Andreas Burgmayer / HA

Hamburger Studenten eröffnen die „Kunst-Apotheke“ auf der Einkaufsmeile in Norderstedt – und schaffen eine Hochschule auf Zeit.

Norderstedt.  Kunst – einfach so, in einem ausgeweideten Ladenlokal in zweiter Reihe an der Ulzburger Straße 310. Das A wie Apotheke an der Scheibe verrät, dass es hier mal um Pillen und Heilversprechen ging. Nun stolpert man in den Raum mit seinen kahlen Wänden, den halbseitig aufgemeißelten Betonsäulen, an denen die Bewehrung unter dem Putz hervorscheint, mit seinem Teppichboden, der quadratmeterweise aufgerissen daliegt und mieft, mit seiner verwaisten, gerätelosen Küche und den nutzlos gewordenen Schiebeschränken, in denen früher Medikamente lagerten. Und mittendrin im Ladenlokal steht Ruth Apio Uludii, Kunststudentin der Medical School Hamburg, und fordert das Dutzend Menschen im Raum auf: „Gehen Sie durch den Raum! Gehen Sie schnell. Gehen Sie langsam! Gehen Sie in Zeitlupe! Spüren Sie den Raum! Wechseln Sie die Perspektive!“

Kunst durchkreuzt den Alltag und zwingt nachzudenken

Alle hier hätten eigentlich gerade was anderes, vermeintlich besseres zu tun, als in einem leer stehenden Ladenlokal Gehübungen zu machen. Geschäftsleute wie Henning Schurbohm zum Beispiel, der jetzt sein Elektrotechnik-Unternehmen Elektro Alster Nord führen müsste, die Vertreterin des Immobilien-Verwalters Potenberg, die jetzt die ehemalige Apotheke an den Mieter bringen müsste, oder die Lokaljournalisten, die jetzt ihre Berichte und Beiträge fertig recherchieren und in die Redaktionen zurückfahren müssten. Stattdessen aber laufen alle durch den Raum und spüren.

„Kunst, die den Alltag unterbricht, die mit Menschen arbeitet, sie dort abholt, wo sie sich gerade befinden“, sagt Mariel Renz. Sie ist Professorin an der Medical School Hamburg für den Bachelor-Studiengang Expressive Arts in Social Transformation, eine Umschreibung für die Idee, Studenten mit den Grundlagen künstlerischen Arbeitens vertraut zu machen, damit sie später die Kunst in all ihren Ausdrucksformen als Hebel ansetzen können, um die harte Schale zu knacken, die Menschen um sich, ihre Gefühle, Wünsche oder Probleme gebildet haben. Die Künstler wirken später in den Schulen, im Strafvollzug, im Museum, in Unternehmen, sie helfen Kindern und Erwachsenen, Alten und Kranken in Krisensituationen.

Und eben hier, an der Ulzburger Straße, in einer Ex-Apotheke, direkt in einem sich wandelnden Stadtteil – von der schnöden Durchfahrtsstraße mit Ladenzeilen zu einem Boulevard mit kultureller Multifunktion – und einer Unternehmerschaft, die mehr geben will als nur Sonderangebote. Social Transformation eben.

40 Studenten der Medical School haben die „Kunst-Apotheke“ eröffnet, werden hier in den kommenden Monaten bis zum Sommer Vorlesungen hören, sie werden sich auf Abschlussprüfungen vorbereiten, und sie werden alle künstlerische Theorie im Norderstedter Forschungsfeld an der Ulzburger Straße in die Praxis umsetzen. Was das genau heißt? Warten wir mal ab. Es ist ein offener Prozess. Nur so viel: Junge Künstler werden in der „Kunst-Apotheke“ öffentlich arbeiten, Bürger zum Mitmachen animieren, Passanten auf der Ulze mit Kunst überraschen und Fragezeichen hinter die vielen Ausrufezeichen des Alltags setzen.

Es ist die erste Hochschule auf Zeit in Norderstedt, wie es die Stadt Norderstedt tituliert. Oder ein „Whow-Projekt“, wie es Henning Schurbohm bezeichnet. „Man könnte uns fragen, was das uns Händlern bringt“, sagt der Vorsitzende der Interessengemeinschaft der Kaufleute an der Ulzburger Straße (IKUS). Nun: Aufmerksamkeit für die Einkaufsmeile und Leben in der ansonsten leer stehenden (Ex-Apotheken-)Bude. Drei Jahre habe der IKUS an der „Whow-Idee“ gefeilt, bis Kaufmann Manfred Fitz (Sicherheitstechnik) seine Tochter und deren Studium an der Medical School Hamburg ins Spiel brachte. Dort war man angetan und überrascht, von Kaufleuten, die was wagen wollen, die sozio-kulturelle Verantwortung fürs Quartier übernehmen und bereit sind, Kunst aus dem elitären in den banal-alltäglichen Raum zu ziehen.

Ergreifendes Ende einer spontanen Performance

„Nun nehmen Sie bitte Stift und Papier und schreiben Sie auf, was Sie denken!“ Ruth Apio Uludii bremst die im Raum Umherschweifenden aus. Alle schreiben, notieren das, was ihnen eben so aus dem Kopf fällt. Und das ist – verblüffend. Denn plötzlich wird allen zufällig an der Performance Beteiligten klar, wie viel es über diesen leeren Raum zu sagen gibt. Und als Ruth Apio Uludii ihren poetischen Text vorliest, theatralisch inszeniert mit dem hallend-metallischen Klang ihrer stampfenden Füße auf den Stufen der Treppe zum Keller, ist das ein kleines Ereignis. So stark, dass Katja Hannen von Potenberg Immobilien sagt: „Unglaublich, was diese Worte aus diesem Raum gemacht haben – das ist ergreifend.“ Ein eindeutiges Plädoyer für mehr davon.

Die „Kunst-Apotheke“ bietet am Donnerstag, 11. Mai, 10 Uhr, das erste Offene Atelier an. Danach gilt das Prinzip der Offenen Tür – einfach kommen, gleich mitmachen oder Termine vereinbaren.

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