Er mache nur Probleme in der Klasse – und das mit Absicht, sagt die Lehrerin am Telefon.
Nein, antwortet Pflegemutter Nicole Schäfer. Mein zehnjähriger Pflegesohn ist behindert, sein Gehirn ist geschädigt. Die Diagnose lautet Fetales Alkoholsyndrom (FASD). Seine Mutter hat getrunken – während der Schwangerschaft.
Wie bitte? Der Zehnjährige soll krank sein und nicht anders können? Ach was! Das glaube sie der Mutter nicht, sagt die Lehrerin. Der Junge könne sich schon benehmen, wenn er das nur wolle. Der habe sicher keine Krankheit!
In Nicole Schäfers Alltag sind solche Gespräche nicht selten. Wieder einmal abgetan als schlechte Mutter, die unfähig ist, ihre missratenen Gören ordentlich zu erziehen. Und Mode-Krankheiten vorschiebt, wenn es auffällt. Stigmatisierung, Ablehnung, Unverständnis schlagen Nicole Schäfer und ihren Pflegekindern überall entgegen. „Bei meiner Maya kamen die Eltern in der Kita auf mich zu und sagten, Maya solle aufhören, deren Kinder zu nerven, dass sie mit ihr spielen sollen. Mit solchen wie der, würden sie sich nicht abgeben, sagten sie.“
Für fünf Kinder hat Nicole Schäfer die Verantwortung übernommen. Vier davon leiden unter FASD. „Die große ist 19 und macht gerade das Abitur. Da haben wir jetzt auch den Verdacht. Sie wird sich demnächst untersuchen lassen.“ Nicole Schäfer sagt, dass es keinen Sinn mache, sich nun resigniert in die Ecke zu setzen und zu heulen. „Ich kämpfe für meine Kinder. Für die Anerkennung ihrer Behinderung.“
Gemeinsam der Pflegemutter Bettina Toebe-Drost, die zwei FASD-Kinder aufgenommen hat, sitzt Schäfer im Haus der ATS-Suchtberatung an der Kohfurth in Norderstedt. Die Mütter aus dem Kreis Dithmarschen sind gekommen, um vom Schicksal ihrer Pflegekinder zu erzählen, die geschädigt durch Alkohol zur Welt kamen. Und um auf die Fachtagung aufmerksam zu machen, die Astrid Mehrer und Bettina Sommerburg von der ATS in Norderstedt organisiert haben (siehe Artikel unten).
Kinder und Jugendliche mit FASD bringen alle an die Grenzen des Ertragbaren – Lehrer und Mitschüler, Eltern und Geschwister, nicht zuletzt sich selbst. Sie sind gereizt, impulsiv, haben Wutausbrüche, sind emphatisch, manipulieren andere, überschreiten angstlos Grenzen, werden dabei zur Gefahr für sich und andere. Sie schlafen schlecht, können sich vieles nicht merken, wirken unkonzentriert.
„Wenn meine Kinder zur Tür gehen, weil es klingelt, dann haben sie auf halbem Weg vergessen, warum sie zur Tür gehen“, sagt Bettina Toebe-Drost. Die Erziehung der Kinder sei eine 24/7-Herausforderung. „Meine Tochter steht nachts auf und frisiert den Hund. Oder sie geht balancieren auf dem Dach, zündet Kerzen an oder dreht alle Wasserhähne auf. FASD-Kinder sind angstfrei und können sich und die Gefahr schwer einschätzen.“
Trotz allem sind die Kinder aber nicht selten eloquent, haben einen durchschnittlichen Intelligenzquotienten, schaffen ihre Schulabschlüsse, bis zum Abitur. Deswegen nehmen zu viele in ihrem Umfeld an, dass sie keine Behinderten, sondern lediglich nervige, unausstehliche Menschen sind, die wenig auf die Reihe kriegen. Und so leiden FASD-Betroffene mit zunehmendem Alter an Depressionen. Suizid ist bei ihnen nicht selten.
Diese schwierigen Lebensgeschichten sind umso tragischer, weil sie komplett zu vermeiden gewesen wären. Geschädigt wurden FASD-Kinder schon im Mutterleib. Durch den Alkohol, den die Mutter trinkt, während in ihr das neue Leben wächst. Welche Alkoholmenge in welchem Schwangerschaftsstadium gefährlich ist, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden. Fakt ist nur die schwer schädigende Wirkung des Alkohols auf den Fötus. Obwohl komplette Abstinenz während der Schwangerschaft angeraten ist, gehen immer noch acht von zehn schwangeren Frauen das Risiko ein.
Weil sie aller Aufklärung zum Trotz noch nie etwas von FASD gehört haben. Weil das Umfeld und immer noch etliche Ärzte versichern, dass ein Gläschen eines alkoholischen Getränks am Tag schon nicht schadet. Weil Warnungen ignoriert werden und die Sucht die Angst vor der Schädigung des ungeborenen Lebens verdrängt.
So wurde FASD laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur häufigsten Behinderung in der westlichen Welt, weit vor dem Down-Syndrom. Etwa 10.000 Kinder kommen pro Jahr in Deutschland geschädigt zur Welt, 2000 davon mit der schweren Vollausprägung, bei der auch physische Veränderungen auftreten, wie Kleinwuchs, Gesichtsveränderungen und Herzfehler. Bei den restlichen geschätzten 8000 Kindern liegt FASD nur partiell vor, sie haben weniger körperliche Symptome als Verhaltensstörungen. Und in den wenigsten Fällen überhaupt eine Diagnose. Das heißt: Sie wissen mit zunehmendem Alter, dass irgendetwas nicht mit ihnen stimmt – aber nicht, warum.
Ein Schicksal, mit dem sich der 32-jährige Stefan aus Henstedt-Ulzburg bis zu seinem 32. Lebensjahr begnügen musste. Seine Mutter, die vor 13 Jahren starb, muss während der Schwangerschaft und auch danach ziemlich viel getrunken haben. Doch genau kann er seine Kindheit nicht mehr erinnern – wie so vieles. Das mangelnde Erinnerungsvermögen ist Teil des Problems. „Ich weiß noch, dass ich in der Schule immer Förderunterricht in Deutsch und Mathe brauchte.“ Und er spürte, dass er anders als die anderen war. Dass er mehr Zeit brauchte für die Dinge. Dass er schlecht einschlafen konnte – und wenn er eingeschlafen war, dann wachte er erst am folgenden Mittag wieder auf. Das ist bis heute so geblieben. „Und ich reagierte immer häufiger aggressiv. Ich konnte diese Aggressionen in mir nicht kontrollieren.“
Stefan schaffte den Realschulabschluss. Aber seine Seele verdunkelte sich immer mehr. Seit seinem 22. Lebensjahr ist er Stammgast in der Psychiatrie, leidet unter schweren Depressionen. Gegen alle Widerstände beginnt Stefan eine Ausbildung zum Pflegeassistent in Kiel. „Ich habe die dreijährige Ausbildung abgeschlossen. Aber aus heutiger Sicht weiß ich gar nicht, wie ich das eigentlich geschafft habe.“ Seine heutige Sicht ermöglichte ihm Professor Dr. Hans-Ludwig Spohr vom FASD-Zentrum der Charité in Berlin. Bekannte vermittelten Stefan zu dieser Koryphäe für angeborene Alkoholschäden in Deutschland. „Und der bescheinigte mir FASD im Vollbild“, sagt Stefan.
Nun weiß er, woran er ist und hat seinen Schwerbehinderten-Ausweis. In seinem Beruf hat er auf dem ersten Arbeitsmarkt keine Chance. „Ich habe im Praxis-Teil gemerkt, dass ich einfach zu langsam bin, um die geforderte Arbeit zu erledigen.“
Eine frühzeitige Diagnose ist entscheidend für den weiteren Lebenslauf eines FASD-Betroffenen. Doch das geschieht immer noch viel zu selten. Häufig werden falsche Diagnosen abgegeben, etwa ADHS bei Kindern und Jugendlichen. „Ich wurde über Jahre in der Psychiatrie falsch behandelt“, sagt Stefan. „Heute kann ich sagen, was mein Problem ist und meinen Befund von Professor Spohr vorzeigen. Und ganz oft bekomme ich zu hören: FASD? Was ist denn das?“
Professor Spohr habe es geschafft, die Schädigung des Gehirns bei FASD-Betroffenen sichtbar zu machen – anhand farbiger Gehirn-Scans. „Wenn das gesunde Gehirn eine üppige Blumenwiese ist“, sagt Bettina Toebe-Drost, „dann finden sich bei den Aufnahmen der Gehirne unserer Kinder Bereiche, die völlig brach liegen, auf denen nichts wächst.“
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