Norderstedt

Vorzeigeprojekt: Solardorf ist gescheitert

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Michael Schick

Foto: Michael Schick

Ziel nicht erreicht: Das sagen die Bewohner dreieinhalb Jahre, nachdem das bundesweite Vorzeigeprojekt gestartet ist.

Norderstedt.  Es galt als eines der zukunftsträchtigsten Projekte Deutschlands, eins, das der Stadt einen Nachhaltigkeitspreis eingebracht hat: das Solardorf an der Müllerstraße in Norderstedt. Doch dreieinhalb Jahre nach dem Start resümieren die Bewohner: Das Projekt ist gescheitert. Das Ziel, das die 25 Haushalte energieautark leben, ist nicht erreicht. „Von den Komponenten des Solarpaketes, das wir für rund 70.000 Euro zusätzlich zu den normalen Baukosten gekauft haben, wurde fast nichts realisiert“, sagt Anwohner Jonas Röntgen. Die einstige Euphorie, Teil der Energiewende zu sein und umweltschonend zu leben, sei Enttäuschung und Ärger gewichen.

„Es wäre ja schon toll, wenn wir warm duschen könnten“

„Nicht nur die Innovationen sind auf der Strecke geblieben. Es hapert ja an Selbstverständlichkeiten. Es wäre ja schon toll, wenn wir warm duschen könnten und die Heizung nicht ausfallen würde“, sagt Martin Koops. Das sei allerdings ein Problem, das auch die Bewohner der benachbarten Siedlung und die nahe Grundschule betreffe. Ursache sei nach den Recherchen der Solardorf-Bewohner, dass das Blockheizkraftwerk als Lieferant der Fernwärme nicht rundlaufe.

Zurück zum Solarpaket, das jeder abnehmen musste, der ein Grundstück kaufte. 25 Quadratmeter Photovoltaik-Module auf dem Dach, eine Speicher-Batterie, Smarthome, das „intelligente Haus“, das den Stromverbrauch optimal steuert, Smart-Grid, das „intelligente Netz“, das den Stromtausch der Dorfbewohner untereinander steuert, ein Elektroauto und eine rückladefähige Auto-Ladebox – das war der Kern eines modernen Dorfes, mit dem Norderstedt sein innovatives Image polieren wollte.

Dieses Ensemble ist Voraussetzung dafür, dass die Bewohner den Solarstrom selbst verbrauchen, dass überschüssige Energie in der Haus- oder in der Autobatterie gespeichert, aber auch vom Fahrzeug ans Haus wieder zurückgegeben werden kann. Weiteres Ziel ist der Stromtausch untereinander: Fehlt dem einen Energie, weil Geschirrspüler, Waschmaschine, Mikrowelle, TV und PC laufen, schließt der Versorgungsring zwischen den Nachbarn automatisch die Lücke, indem gespeicherter Strom aus den anderen Häusern nachgeschossen wird.

Wenn die Bewohner heute diesen Katalog durchgehen, heißt es: nicht vorhanden oder nicht lieferbar. Allein die Photovoltaik-Anlagen auf den Dächern sind installiert. „Das ist ja heute nichts Besonderes, sondern Standard“, sagt Koops. Auf den Grundstücken sollte ein Nissan Leaf mit Elektroantrieb stehen. Zurückgestellt, konnte nicht bestellt werden, lautet der Kommentar der Dorfbewohner. Smarthome – aus dem Konzept entnommen, nun optional. Wandladebox – war nie lieferbar, nicht verfügbar. Verbrauchszähler (Smart-Meter) – Anfang April durch die Stadtwerke installiert. Smart-Grid – nicht zur Realisierung vorgesehen. „Seit Übernahme des Stromnetzes durch die Stadtwerke ist Smart-Grid nicht mehr umsetzbar“, sagt Bewohner Bernd Degen.

„Es gibt technische und rechtliche Punkte, die eine Umsetzung des ambitionierten Projektes sehr erschwert haben“, heißt es in der Stellungnahme der Stadt, die die Verwaltung im Ausschuss für Stadtentwicklung und Verkehr präsentiert hat. Mehrfach hatten Politiker nachgefragt, wie es um das Solardorf steht. „Das dorfeigene Stromnetz konnte nicht realisiert werden, weil eine neue Gesetzeslage private Stromnetze untersagt und den Bürgern die freie Wahl des Anbieters zusichert“, sagt Tobias Schilling von der Immobilienfirma Schilling, die das Konzept verwirklichen sollte. Nun hängen die Bewohner am öffentlichen Netz der Stadtwerke, was sie wegen der Versorgungssicherheit und nachvollziehbarer Abrechnungen auch begrüßen. Rückladefähige Batterien seien bis heute nicht lieferbar, stellt die Stadt fest. „Das hatte uns die Lieferfirma zugesichert, dann aber einen Rückzieher gemacht“, sagt Schilling.

Bewohner wehren sich gegen Schuldzuweisung der Stadt

Allerdings kritisiert die Verwaltung auch die Eigentümer: Wenn Konzeptbausteine nicht reibungslos umgesetzt werden konnten, habe das bei den „meisten zukünftigen Hausbesitzern eine Verweigerungshaltung erzeugt, die schon zu einem frühen Zeitpunkt das gesamte Konzept infrage stellte“.

Das weisen die Betroffenen zurück: „Leider war die Stadt in direkten Gesprächen mit uns nie an einer wirklichen Lösung interessiert, sondern wollte nur, dass mindestens alle sichtbaren Bestandteile umgesetzt werden: Photovoltaik und Elektroauto. Aber an einer Scheinlösung war niemand interessiert, sondern alle an der eigentlichen, der innovativen Gesamtlösung“, sagt Röntgen. Das Vertrauensverhältnis sei zerrüttet. Denn die Stadt habe ohne das Wissen der Eigentümer Grunddienstbarkeiten in die Grundbücher eingetragen, die es den Hausbesitzern verbieten, auf dem eigenen Grundstück ein Auto mit Verbrennungsmotor zu parken, wenn man nicht auch ein Elektroauto mit Ladestation besitzt. „Die rückladefähige Batterie wird kommen und damit ein weiterer Konzeptbaustein“, sagt Schilling. Für die Bewohner hingegen ist das energieautarke Dorf Geschichte.

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