Depressionen, Schulangst, Burn-out – Schüler leiden zunehmend unter psychischen Problemen. Drei Betroffene berichten. Sie wollen aufklären und aufrütteln.

Sie ist hochbegabt. Doch Schulangst blockiert die Intelligenz, Depressionen lähmen die Lust am Lernen, monatelang verweigert das Mädchen den Schulbesuch. Ein Mitschüler hat Muskelschwäche, Cortison zeichnet den Körper, er traut sich nicht mehr raus, verpasst viel Unterricht. Kurz vor dem Burn-out steht ein 18-Jähriger. Drei Tage Schule bis 17.20 Uhr, zwei Tage jobben. Er ist am Ende, leer, verschläft das Wochenende, das Leben kreist nur noch um die Schule. Drei Beispiele für psychische Probleme, unter denen Jugendliche zunehmend leiden.

„Der Druck auf Jugendliche ist enorm“, sagt Heike Schlesselmann, Leiterin des Coppernicus-Gymnasiums in Norderstedt. Schulstress sei dabei nur ein Aspekt. Auch die sozialen Medien beeinflussten den seelischen Zustand erheblich. Ständig präsent sein, alles mitbekommen, die Freunde kontaktieren – das ist die eine Seite, Ausgrenzung und Mobbing die andere. „Die Jugendlichen werden das öffentliche Auge einfach nicht mehr los“, hat die Pädagogin festgestellt. So hatte die gesamte Mittelstufe eine Schülerin leicht bekleidet bei Facebook gesehen, irgendjemand hatte das Foto eingestellt. Die Betroffene habe enorm darunter gelitten. Die Schattenseite permanenter Öffentlichkeit könne die in der Pubertät ohnehin labile Psyche schwer belasten und sogar Selbstmordgedanken hervorrufen.

Die psychischen Probleme nehmen zu, stellt die Schulleiterin fest und ist damit nicht allein. „Auch von Lehrern anderer Schulen bekomme ich das zu hören“, sagt Heike Schlesselmann. Die sogenannte Kinder- und Jugendgesundheitsstudie (KiGGS) des Robert-Koch-Instituts, das die Ergebnisse im vorigen Sommer vorgestellt hatte, stützt den Eindruck: Ein Fünftel der Kinder und Jugendlichen im Altern von drei bis 17 Jahren zeigte psychische Auffälligkeiten.

„Fiese Spitznamen“ kratzten am Selbstbewusstsein der Hochbegabten

Wie diese abstrakte Erkenntnis im Einzelfall belasten kann, berichten drei Oberstufenschüler, anonym, und mit veränderten Namen. „Wir wollen aufklären und dazu beitragen, dass die Belastungen von Schülern besser wahrgenommen werden und mehr Hilfe angeboten wird“, sagt das Trio.

Schulangst heißt Jennifers Trauma. „Nach dem Wechsel auf die weiterführende Schule wurde ich ausgegrenzt. Wenn 15 Schüler aus der Klasse eine Übernachtungsparty feierten, durften ich und einige andere nicht dabei sein“, erinnert sich die 18-Jährige. Sie war hochbegabt, was Neid geweckt haben könnte. „Fiese Spitznamen“ kratzten am Selbstbewusstsein, nirgendwo fand sie Verständnis, das Mädchen isolierte sich. Die Angst vor Mobbing verursachte erst Migräne, schließlich die totale Schulverweigerung. „Über Monate bin ich nicht hingegangen“, sagt die künftige Abiturientin. Die Eltern, beide berufstätig, hätten sich nicht gekümmert, zwar mal nachgefragt, aber sich „nie dafür interessiert, wie es mir geht“. Sie wurde depressiv, verbrachte ihre Tage im Bett und ließ sich vom TV-Programm ablenken.

Dreieinhalb Monate verbringt sie in einer psychiatrischen Klinik

Dreieinhalb Monate verbrachte die Norderstedterin mit der Diagnose Schulangst in einer psychiatrischen Klinik, noch einmal drei Monate in der psychiatrischen Tagesklinik, damals noch in Schleswig. „Es war und ist schwer für mich, darüber zu sprechen und einen Gesprächspartner zu finden“, sagt Jennifer, die nach der neunten Klasse auf das Coppernicus-Gymnasium gewechselt ist und sich dort deutlich besser verstanden und betreut fühlt. Dennoch: Die Schulangst ist nie ganz verschwunden, inzwischen hilft ihr autogenes Training, und doch will sie die Schule möglichst schnell hinter sich lassen, mit dem Fachabitur abgehen. „Das Schlimmste ist, dass ich durch diese Blockade meine Möglichkeiten nicht ausschöpfen konnte“, lautet Jennifers Fazit.

Auch Jonas erlebte schon früh seinen Albtraum, den er seitdem nicht mehr losgeworden ist: „In der sechsten Klasse sollte ein Mädchen in einem Theaterstück den Arm um mich legen, sie hat sich aber geweigert. Ich war so enttäuscht und deprimiert, dass ich sofort nach Hause gelaufen bin.“ Das war der Anfang der Ausgrenzung. Im Sport wurde er bei Mannschaftsspielen als letzter gewählt und merkte, dass er nicht dazu gehört, die anderen ihn ablehnen. Auch mit dem Lernen klappte es nicht. Trotz Nachhilfe in Mathe und Latein „bin ich grandios gescheitert“. Er blieb sitzen, war plötzlich der „Große“, das Selbstbewusstsein wuchs, ehe eine Muskelschwäche ihn erneut zurückwarf. Aufenthalte in Kliniken, regelmäßige Arztbesuche – Jonas verpasste viel Lernstoff. Cortison half, doch die Folgen waren am Körper zu sehen. „Ich habe mich nicht getraut, kurze Klamotten anzuziehen, und dann habe ich mich gar nicht mehr rausgetraut, wollte nichts mehr mit den Leuten zu tun haben“, sagt der 18-Jährige.

Ein Neurologe bescheinigte ihm eine handfeste Depression, er ging zur Therapie. Auch ihm hilft autogenes Training. Wenn er seine Gedanken darauf fokussiert, wie sich seine Bettdecke anfühlt, tritt die Schulangst in den Hintergrund. Jonas hatte sich schon mit dem Realschulabschluss abgefunden, nun versucht er sich am Fachabitur.

„Mindestens 40 Prozent der G8-Schüler sind überfordert“, sagt Ibo. Auch er zählt sich dazu. Drei lange Schultage bis 17.20 Uhr, 38 Unterrichtsstunden, Hausaufgaben, Referate, Vorbereitung auf Klausuren, dazu noch zwei Tage, an denen er jobbt – eine 50-60-Stunden-Woche kommt da schnell zusammen.

Der Abiturient in spe will und muss arbeiten, die Eltern können kein Taschengeld zahlen. Klamotten muss der Norderstedter selbst bezahlen, und der Führerschein ist heute Pflicht, sagt er. Freiwillig hat Ibo noch Flüchtlingskindern Deutsch beigebracht. „Ich war immer ausgelassen und fröhlich, aber irgendwann musste ich dem Schlafmangel Tribut zollen und war nur noch fertig und kaputt“, sagt der junge Norderstedter. Die Wochenenden hat er verschlafen, die Sozialkontakte gerade noch so bedient.

„Als ich an einem Sonntagnachmittag aufgewacht bin, war mir klar: So geht das nicht weiter“, sagt Ibo. Er wendet sich an Beratungslehrerin Eva Eckeberg. Sie bescheinigt ihm, dass er kurz vor einem Burn-out steht und rät, den Wochenplan zu entlasten. Er entschied sich fürs Abi und jobbt seitdem nur noch einen Tag. Da kam ihm der Mindestlohn entgegen. Den ersten freien Tag seit sieben Monaten hat Ibo intensiv genossen.

Viele Lehrer sehen sich als Fachlehrer und weniger als Pädagogen

Eva Eckeberg ist eine von zwei Fachkräften am Coppernicus-Gymnasium, die speziell ausgebildet sind und Schülern helfen, denn: Die Lehrer sind vorrangig als Stoffvermittler ausgebildet, viele sehen sich als Fachlehrer und weniger als Pädagogen. Außerdem hat Schulleiterin Schlesselmann eine halbe sozialpädagogische Stelle beantragt, um weitere Hilfe anbieten zu können.

30-40 Jugendliche betreut Eva Eckeberg – die Lehrerin für Deutsch und Sport hat sich zum zertifizierten Coach weitergebildet und bildet zudem als Studienleiterin den pädagogischen Nachwuchs aus. „Und spielen Themen wie der Umgang mit Trauer und mit den Medien zunehmend eine Rolle“, sagt die Pädagogin.

Wenn sie am Copp berät, reicht das Spektrum von Ängsten vor Klausuren und Hilfe bei Bewerbungen über häusliche Probleme bis hin zu Tipps, wie Schüler richtig lernen und ihren Tag entlasten. „Lange Schule, soziale Netzwerke und noch jobben, für manche Oberstufenschüler ist der Arbeitstag um 22 Uhr noch nicht zu Ende. Dass das auf Dauer niemand durchhält, liegt auf der Hand“, sagt Eva Eckeberg.

Andere sitzen stundenlang an ihren Hausaufgaben und werden doch nicht fertig. Oder die Eltern, selbst Ärzte, Ingenieure, in jedem Fall Akademiker, verlangen von ihren Kindern Top-Abis. Andere wiederum lassen ihre Kinder auf dem Weg zum Abitur völlig allein, können oder wollen sie nicht unterstützen. „Mama oder Papa haben einen neuen Freund, da stören Sohn oder Tochter nur“, sagt die Beratungslehrerin.