Der Norderstedter Obdachlose wurde kurz nach Weihnachten tot auf einer Bank gefunden. Die Umstände sind ungeklärt, die Kriminalpolizei ermittelt. Eine Spurensuche

Mit zuckenden Gesichtsmuskeln starrt Andrzej Kokolus in die leere Ecke neben dem Küchentresen in der Tagesaufenthaltsstätte Norderstedt. Seine Augen füllen sich mit Tränen. Andrzejs Muskeln sind straff, der Händedruck des 42-Jährigen schmerzt. Früher kämpfte Andrzej als polnischer Berufssoldat, mittlerweile macht er Platte in Norderstedt. Neben ihm schlief Nacht für Nacht Slawomir Sawa, sein Freund. Jetzt ist Sawa tot.

„Dort“, sagt Andrzej in gebrochenem Deutsch. Mit zwei Schritten durchquert Andrzej den Raum, stellt sich dorthin, wo Sawa noch am Morgen des 24. Dezembers stand. Über dem Tresen hängt ein Foto von ihm, aufgenommen während der Weihnachtsfeier in der Tagesaufenthaltsstätte.

Andrzej und Sawa kamen jeden Tag, bekamen ein warmes Mittagessen – auch wenn sie nicht zahlen konnten. Am Weihnachtsmorgen spielte Andrzej Akkordeon, zusammen sangen die Obdachlosen polnische Weihnachtslieder. Die Stimmung war ausgelassen, schon lange hatte es in der Tagesaufenthaltsstätte kein solches Fest mehr gegeben. „Sawa: so.“ Andrzej macht vor, wie Sawa das Treiben verfolgte: nachdenklich, die Hände gefaltet, den Blick leicht gesenkt. Andrzrej schreit nun, lauter, immer lauter: „Warum?“ „Mein Freund“, presst er schließlich hervor.

Slawomir Sawa wird am Morgen des 27. Dezembers 2014 neben dem Haus In de Tarpen 110 im Norderstedter Stadtteil Garstedt gefunden. Eine Prostituierte sieht den 44-Jährigen reglos auf ihrer Gartenbank liegen, als sie mit ihrem Hund Gassi geht. Im Vollrausch, so vermutet die Polizei zunächst, habe Sawa sich auf die Bank gelegt und sei in der kalten Dezembernacht erfroren. Später stellt die Polizei fest: Sawas Rippen sind gebrochen. Die Todesursache ist dennoch nicht eindeutig. Sawa war schwerer Alkoholiker, sein Körper in einem schlechten Zustand. Deswegen haben die Gerichtsmediziner Schwierigkeiten, die genaue Todesursache festzustellen. Auch in der Nacht seines Todes hat Sawa getrunken.

Im Bericht der Gerichtsmedizin steht: Sawa starb an einer Kombination aus Rippenbrüchen, Unterkühlung und Alkohol. Die Staatsanwaltschaft glaubt, dass die Rippenbrüche frisch sind, dass sich Sawa kurz vor seinem Tod entweder geprügelt hat oder verprügelt wurde. Die Kripo ermittelt seit mehr als zwei Monaten, es gibt bisher keine Verdächtigen.

Sawa sagt, dass sein Vater ein Mörder sei und er deshalb nicht zurück könne

Die Nachforschungen unter den Obdachlosen sind eine Reise in die Welt des Ungefähren, der Vornamen und der Spekulationen. Viele Menschen haben etwas gehört, wenige wissen etwas. Es ist auch eine Reise zu den Menschen, die oft übersehen werden. Wenige dieser Menschen haben eine Wohnung, jeder hat eine Geschichte.

Sawas Geschichte beginnt in Polen. Einige sagen, er komme aus Stettin, andere meinen, aus Danzig. Über seine Familie haben seine Freunde nur Bruchstücke erfahren. „Mein Vater ist ein Mörder“, sagt Sawa eines Tages. „Deswegen kann ich nicht zurück.“ Fest steht nur: Irgendwann führt Sawas Suche nach einem besseren Leben nach Norderstedt.

Zeitweise hat Sawa eine Wohnung, auch einen festen Job. Bei Götz Vogler hilft er lange Zeit in der Werkstatt, schraubt neben der Aral-Tankstelle an der Niendorfer Straße an kaputten BMW. „Er war ein guter Mann“, erinnert Vogler sich. „Früher jedenfalls.“ Früher, das war die Zeit, in der Sawa nur selten betrunken war. In seiner Wohnung lässt er damals Freunde schlafen, die kein Dach über den Kopf haben. „Aber Miete hat er nie wirklich gezahlt“, sagt Vogler. Sawa fliegt aus der Wohnung, immer wieder, auch bei Vogler kann er nicht mehr arbeiten. „Am Ende war der Alkohol stärker“, sagt der.

Bis ihn das Ordnungsamt vertreibt, zeltet Sawa im Sommer zunächst auf dem kleinen Rodelberg neben der Tagesaufenthaltsstätte. Zuletzt schläft Sawa zusammen mit seinem neuen Kumpel Andrzej in der Tiefgarage unter dem Herold-Center.

Die Luft ist schlecht dort unten, voller Abgase. „Vergiftungsgefahr. Garage zügig verlassen“ steht auf einem Schild. Sobald die Geschäfte des Herold-Centers schließen, setzt sich Sawa auf eine der Holzbänke zwischen Busbahnhof und U-Bahn-Station. Hier wärmt er sich auf, bereitet sich mit Alkohol auf die kalte Nacht vor. Immer dabei ist sein Einkaufswagen, darin sammelt er Pfandflaschen.

Wenige Meter von Sawas Bank entfernt feiern am Wochenende die Gäste der Diskothek Alptraum. So lernt Sawa auch Charlien Synnatzschke, 19, und ihre Freundin Johannah Förster, 28, kennen. In einer Nacht im Oktober 2014 verlassen die beiden jungen Frauen mit Freunden die Disco. Die Gruppe setzt sich neben Sawa auf die Bank. „Ihr könnt mich Slawi nennen“, sagt er den Frauen nach ein paar Minuten.

Slawas bescheidener Wunsch ist es, einen Schlafsack zu haben

Fortan halten die beiden Ausschau nach Sawa, kaufen ihm Brot, auch mal eine Fanta. „Slawi mochte die Menschenmassen im Herold-Center nicht“, sagt Charlien. Deswegen sei er immer erst abends gekommen. Innerhalb weniger Wochen schließen Charlien und Johannah Sawa in ihre Herzen. „Er hatte einen unheimlichen Charme, war so bescheiden“, sagt Johannah. „Teilweise saßen wir dort und uns kullerten die Tränen herunter. Er war unser Slawi.“

Am Wochenende vor Weihnachten treffen Charlien und Johannah Sawa erneut. Zum ersten Mal gelingt es den Frauen, Sawa einen Wunsch zu entlocken. „Ein Schlafsack wäre nicht schlecht“, sagt er. Charlien und Johannah zögern nicht, packen neben dem Schlafsack auch eine Zahnbürste, Zahnpasta, Lebensmittel, warme Unterwäsche, dicke Socken und Pullover zusammen. Vor allem aber wollen sie ihrem Slawi besonders warme Kleidung bringen, die für Arbeit in Kühlhäusern geeignet ist.

Zwei Tage vor Heiligabend stehen Johannah und Charlien vollbepackt vor der Tagesaufenthaltsstätte. Hier haben sie sich mit Sawa verabredet. Es regnet in Strömen, Sawa ist nicht da. Stundenlang suchen die Frauen im Regen nach ihm, schauen in der Tiefgarage, am Herold-Center. Vergebens. Vier Tage später stirbt Sawa. Die Nacht ist minus sechs Grad kalt.

Charlien und Johannah erfahren erst im neuen Jahr von Sawas Tod. Die Nachricht ist ein Schock für sie. Die beiden glauben: Hätten sie Sawa gefunden, wäre es vielleicht nicht so weit gekommen. Johanna sagt: „Wenn er wirklich erfroren sein sollte, hätte das nicht passieren dürfen. Niemand darf in Deutschland erfrieren.“ Johannah und Charlien würden gerne Sawas Grab besuchen. Wo Sawa beigesetzt wurde, wissen sie jedoch nicht. Polizei und Staatsanwaltschaft geben keine Auskunft.

Andrzej glaubt nicht, dass sein Freund Sawa erfroren ist. Noch in der Nacht seines Todes war Andrzej mit Sawa zusammen. Sawa hatte zwei alte Freunde getroffen, gemeinsam wollten die vier Polen „im Hotel“ feiern. Das „Hotel“, wie Andrzej das weiße Mehrfamilienhaus nennt, liegt an der Straße In de Tarpen 110, direkt gegenüber einer Kartbahn.

Vor dem Haus quillt der Müllcontainer über, im Erdgeschoss hängen lila- und rosafarbene Lichterketten vor blickdichten Gardinen. Aus den Fenstern wummert Techno. „Hier ist es, hier haben wir gefeiert“, sagt Andrzej. Die Haustür steht offen, er geht hinein. Die Namensschilder an den Briefkästen wurden überklebt, ein Sack Müll steht in der Ecke. Andrzej greift das Geländer, zieht eine imaginäre Linie Koks durch die Nase und deutet auf die verschlossenen Zimmertüren.

Ein paar Stufen geht es hoch, der Bass wummert nun von links und rechts. Bei lautem Klopfen öffnen sich die Türen einen Spalt breit. Stellt man die falsche Frage, schließen sie sich sofort. Reden wollen die Frauen dahinter nicht, schon gar nicht über tote Obdachlose. Im ersten Stock flackert gelbliches Licht. Gleich links liegt das Zimmer mit der Nummer eins.

Dorthin ist Andrzej Sawa und seinen Freunden gefolgt, zusammen haben sie in dem Zimmer getrunken. Sawa sei unruhig gewesen, schon den ganzen Abend, berichtet Andrzej. Irgendwann sei er plötzlich aufgestanden. „Ich komme gleich wieder“, habe er gesagt. „Ich muss nur schnell etwas erledigen.“ Das ist das letzte Mal, dass Andrzej seinen Freund lebendig sieht. Sawa kommt nicht zurück. Stattdessen weckt die Polizei die drei am nächsten Morgen. Sawa liegt leblos auf der Bank neben dem Haus.

Der Besitzer des Gebäudes ist Thomas Popp. Direkt dahinter betreibt er das Café Vivy. Popp, dunkle gegelte Haare, gesteppte Jacke, vermietet die winzigen Zimmer mitsamt verdreckter Gemeinschaftsdusche für 330 Euro pro Monat. Die meisten Mieter sind Ausländer, nicht alle haben Arbeit.

Eine Rentnerin hat ein besonders gutes Verhältnis zu dem Obdachlosen

Popp war es, der Sawa für die Polizei identifiziert hat. Vor Jahren schon habe Sawa mal versucht, ein Zimmer zu mieten. Zu einem Vertrag sei es aber nie gekommen. An den Namen des Mieters von Zimmer eins kann sich Thomas Popp nicht erinnern. Vor etwa zwei Monaten sei er abgehauen. Mittlerweile steht das Zimmer leer. Mitgefühl für den toten Sawa hat Popp nicht. Er sagt: „Ich finde es nicht schlimm, dass jetzt mal einer von denen gestorben ist. Das sind alles Asis, diese Polen. Man hat nur Ärger mit denen.“

Menschen, die Sawa kannten, sehen das anders. Sigrid ist eine von ihnen. Die Rentnerin arbeitet einmal pro Woche ehrenamtlich in der Tagesaufenthaltsstätte, sie kocht, schenkt Essen aus, hört zu. Zu Sawa hatte sie eine besondere Beziehung. „Er hat nie den Raum ohne ein freundliches Wort verlassen“, sagt sie. Wenn sich die Gäste über Politik unterhalten haben, habe Sawa immer geglänzt. „Er wusste unglaublich viel. Irak. Eurokrise. Afghanistan. Alles.“

An ihrem ersten Arbeitstags klingelt Sawa an der Tür. Dreckig ist er, Sigrid überredet ihn zu einer Dusche, gibt ihm Seife, Rasiergel und eine Creme, eine Kollegin kauft schnell frische Unterwäsche. Als er aus der Dusche kommt, erkennt ihn Sigrid kaum wieder. „Mensch, wie ein Engel siehst du aus“, sagte sie ihm nun. Als Sawa am nächsten Tag in die Tagesaufenthaltsstätte kommt, strahlt er vor Freude. Aus seinem Rucksack holt er einen nicht mehr ganz frischen Strauß Tulpen. Mit einem Lächeln hält er ihn Sigrid unter die Nase und sagt: „Für einen Engel, von einem Engel.“