Der Segeberger Finanzbeamte und Schriftsteller Tobias Sommer legt mit „Jagen 135“ seinen dritten Roman vor

Bad Segeberg. Das Cover lässt ahnen, was auf die Leser wartet: In diesem Buch steckt eine Menge, aber vermutlich keine ausgelassene Fröhlichkeit – eine Person, die kopfüber ins Treppenhaus stürzt. Der Segeberger Schriftsteller Tobias Sommer hat für sein neues Buch ein Thema gewählt, mit dem er die Tiefen der menschlichen Gesellschaft ausloten kann. Es geht schlicht um Selbstmord, um Glück und Unglück, um töten und getötet werden. Der Roman „Jagen 135“ ist in diesen Tagen erschienen.

Tobias Sommer, 36, ist in der Literaturszene kein Unbekannter mehr. Zwei Romane, ein Gedicht- und ein Geschichtenband haben zumindest in der Fachwelt Spuren hinterlassen und für Aufmerksamkeit gesorgt. Seit dem vergangenen Sommer aber wird der Segeberger Finanzbeamte als ein Geheimtipp in der Literaturwelt gehandelt: Er gehörte zu den Teilnehmern des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs 2014 in Klagenfurt, gewann zwar keinen Preis, wurde aber von der Kritik sehr wohlwollend aufgenommen. Im „Zeit“-Feuilleton wurde seine „kafkaeske“ Geschichte lobend erwähnt. Sein dritter Roman findet deshalb schon von vornherein wesentlich mehr Aufmerksamkeit als alles, was vorher seinen Schreibtisch verlassen hat. Für einen Romanvorauszug wurde ihm bereits der Förderpreis für Literatur der Hansestadt Hamburg 2013 verliehen. Beste Voraussetzungen also für einen veritablen Erfolg.

Tobias Sommer beschreibt in seinem Roman eine abgekapselte Welt

Hauptfigur in „Jagen 135“ ist der Pressefotograf Konrad Jagen, der es mit einem Kriegsfoto zu Weltruhm und Reichtum gebracht hat. Er erhält von seiner Redaktion den Auftrag, einen Ort abzulichten, an dem sich seit Jahrhunderten Menschen einfinden, um in den selbstgewählten Tod zu gehen. Ein Wald, ein kleines Dorf, Grenzzäune, Grenztürme, ein unheimlicher Wanderer – das sind die Zutaten einer Geschichte, die auf begrenztem Raum mit wenigen Menschen eine Spirale entwickelt, in der das Unfassbare und Unheimliche durcheinanderwirbelt. Konrad Jagen verfängt sich immer mehr auf der Suche nach Spuren von Selbstmorden in einer Landschaft, die für den Leser nicht greifbar ist. Das Buch spielt in einer Zeit ohne Smartphones, ohne Digitalkameras. Die Landschaft ist weder zeitlich noch räumlich greifbar, die vage angedeuteten Grenzen können alles sein: Ländergrenzen oder eine Metapher für Grenzen im Kopf oder Grenzen für menschliches Handeln. Einsame Hotelzimmer, ein verlassenes Feriendorf, ein einsamer Laden, dem langsam die Ware ausgeht, eine Frau, die den Wald aufsucht, weil sich ihr Sohn genau hier umgebracht hat: Konrad Jagen gerät mit jedem Schritt in das Unterholz tiefer in die Wirrnisse einer düsteren Welt. Tobias Sommer hat die Handlung expressionistisch verdichtet und beschreibt eine abgekapselte Welt, die an Marlen Haushofers grandiosen Roman „Die Wand“ erinnert – ein Buch übrigens, das Tobias Sommer bis jetzt nicht gelesen hat.

Sommer hat für seinen dritten Roman die Perspektive des Ich-Erzählers gewählt, um die Leser direkt mit hineinzunehmen in den inneren Monolog und die Gedankenwelt des Protagonisten. Und das ist eine Welt, die mit zunehmender Lektüre unheimlicher wird. Vom Fotografen, der das Geldverdienen eigentlich gar nicht mehr nötig hat, wandelt sich Konrad Jagen in einen nachdenklichen Mann, dem die Oberflächlichkeit seines bisherigen Lebens nach und nach bewusst wird. Wer will, entdeckt viele Metaphern in dem Buch, aber nicht jeder Leser muss sie entdecken oder interpretieren.

Das Notizbuch ist randvoll, bevor sich der 36-Jährige ans erste Kapitel macht

Die Lektüre von „Jagen 135“ bietet viele Bezugsmöglichkeiten. Tobias Sommer hat streng darauf geachtet, dass der Roman bei aller Düsternis nicht die Klischees erfüllt, die Leser von Psycho-Thrillern erwarten. Auch das Abgleiten in eine – übrigens trotz oder wegen aller Tragik durchaus naheliegenden – Affäre zwischen Konrad und Susanne, die immerhin gemeinsam in einem Ferienhaus wohnen, wäre zu banal für einen anspruchsvollen Roman. Das darf der Leser nicht erwarten.

Tobias Sommer hat die Geschichte und die Figuren nach und nach entwickelt. Es gab eine Grundstruktur, unzählige Notizen, aber keinen ausgearbeiteten Plan für eine stringente Handlung, als er die Arbeit an seinem dritten Roman begann. „Ich bin kein Freund von Plänen“, sagt der Segeberger Autor. „Da merkt der Leser schnell, was alles konstruiert ist.“

Er überrascht sich selbst gerne, wobei ihm der Vorgang einer Schreibblockade bisher fremd ist. Nein, dafür arbeitet Tobias Sommer dann doch zu gründlich vor: Das Notizbuch ist randvoll, bevor er sich mit dem Laptop an das erste Kapitel macht. Manchmal kommen ihm die Gedanken so schnell, dass er später Mühe hat, das Hingekritzelte zu entziffern. Und wenn er mal nicht weiter weiß, schreibt er trotzdem, um den Faden nicht reißen zu lassen. „Nach spätestens 15 Minuten bin ich wieder im Fluss der Geschichte.“

Der Roman „Jagen 135“ wird, davon ist auszugehen, viel Beachtung in den deutschsprachigen Feuilletons finden. Mit dem Rückenwind durch den Bachmann-Wettbewerb („Bachmann-Bonus“) ist es vermutlich auch leichter, ein Buch gut zu platzieren. Aber bei aller Euphorie bleibt Tobias Sommer auf dem Boden der Tatsachen: Er ist Finanzbeamter im mittleren Dienst – und diesen Job macht er nach wie vor sehr gerne. Überhaupt sieht er die Vorteile seiner durchaus komfortablen Lage: Einerseits hat er ein festes Einkommen auf Lebenszeit, andererseits kann er dadurch ohne wirtschaftliche Zwänge im Hintergrund frei als Autor agieren. Klar hat er einen Vorschuss kassiert, natürlich erhofft er sich viele Leser. Aber ihm reichen auch kleine Auflagenzahlen für ein zufriedenes Autorenleben. „Ich habe ein Buch geschrieben, das ich selbst gerne lesen würde!“ So umschreibt er seine Gedanken zu diesem Werk. Und wenn sich Leser finden, die es ebenso gerne lesen, ist er glücklich. Sein Wiener Verlag setzt auf ihn und baut ihn behutsam auf.

Geschrieben wird am Esstisch, auf der Couch, manchmal im Arbeitszimmer

Aber glücklich und zufrieden ist er sowieso: Das kleine Häuschen am Rande Segebergs, in dem er mit Lebensgefährtin und Tochter Marla lebt, bietet genügend Rückzugsmöglichkeiten für einen Literaten. Geschrieben wird am Esstisch, auf der Couch, manchmal im Arbeitszimmer. Gerne zwei Seiten pro Tag, wenn es mal weniger sind, kommt es auch nicht darauf an. Jedenfalls kann er sich an keinen Tag erinnern, an dem er in den letzten zwei bis drei Jahren nicht an sein Buch gedacht hat.

Aus der heimeligen Kleinstadtwelt bricht er gelegentlich auf, um in Großstädten zu lesen: Kürzlich zum Beispiel im Hamburger Literaturhaus, am heutigen Dienstag im Wiener Literaturhaus, auf der Leipziger Buchmesse gibt er zwischen dem 12. und 15. März gleich zwei Lesungen. Aber auch im Segeberger Druckwerk präsentiert er sich und sein neues Buch am 20. März.

„Jagen 135“, von Tobias Sommer, Septime Verlag, 288 Seiten, 21,90 Euro, ISBN 978-3-902711-36-6