Trägerverein der KZ-Gedenkstätte Kaltenkirchen will die Geschichte des Lagergeländes nach dem Zweiten Weltkrieg aufarbeiten. Ein erstes Konzept liegt vor

Kaltenkirchen. Die verrostete Straßenlaterne am Parkplatz fällt nur Besuchern auf, die sich auskennen. Die Lampe an der Spitze fehlt, zwischen den Bäumen ist der Mast kaum auszumachen. Seit Ende der 40er-Jahre steht die Laterne dort. Sie gehörte zu einer Tankstelle, die wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Kaltenkirchen stand. Auch das alte Holzschild auf der anderen Seite der Bundesstraße4 verschwindet teilweise hinter Ästen und Zweigen. „Restaurant Springhirsch“ stand einst auf der Tafel. Zeit, Wetter und Licht ließen die Buchstaben verschwinden.

Wer sich am Gelände der KZ-Gedenkstätte in Kaltenkirchen umsieht, findet Spuren aus einer Zeit, in der sich niemand mehr an die Verbrechen hinter dem Zaun erinnern wollte. Nach Gedenken an Unmenschlichkeit und Verbrechen war vielen Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg nicht zumute. Aus Tatorten wurde nützliche Gebäude: In einem Verwaltungsgebäude der SS entstand nach dem Zweiten Weltkrieg das Restaurant mit dem markanten Schild. In einer der ehemaligen Baracken eröffnete eine Kneipe namens „Astra-Klause“.

Monatelang hat Tschirner im Auftrag des Trägervereins in Archiven geforscht

Wenn Wissenschaftler erforschen, ob und wie sich Menschen im Laufe der Jahre mit einem historischen Ort beschäftigt haben, sprechen sie von der „Zweiten Geschichte“. Haben die Menschen in der Region nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gewusst, dass im Kaltenkirchener Ortsteil Springhirsch Häftlinge hinter dem Zaun gequält und getötet wurden? Wollten sie es wissen? Mit diesen Fragen zur „Zweiten Geschichte“ des Lagers haben sich der Historiker Thomas Tschirner und die Masterstudentin der Kieler Muthesius-Kunsthochschule, Anne-Lena Cordts, auseinandergesetzt und erste Ideen vorgestellt, wie das Erinnern, aber auch das Vergessen von Geschichte öffentlich dargestellt werden könnte.

Monatelang hat Tschirner im Auftrag des Trägervereins der Gedenkstätte in Archiven geforscht, Literatur gesichtet und mit Zeitzeugen gesprochen. Einer von ihnen ist der Alvesloher Gerhard Hoch, der als Erster die Geschichte des Lagers erforscht hat und dafür mit einem Ehrendoktortitel ausgezeichnet wurde. „Er ist der zentrale Akteur“, sagt Tschirner. Hoch war der Erste, der gegen das Vergessen angeschrieben hatte und 1979 seinem ersten Buch über das Lager den vielsagenden Titel „Hauptort der Verbannung: Das KZ-Außenkommando Kaltenkirchen. Zwölf wiedergefundene Jahre 1933–1945“ gab. „Ohne ihn wäre die Gedenkstätte nie entstanden“, sagt Tschirner. Die Jahre wären im öffentlichen Gedächtnis verloren gewesen.

Die Ermittlungen wegen Mordes wurden von der Staatsanwaltschaft eingestellt

Wissenschaftlich begleitet wurde das Projekt von den Historikern der Universität Kiel, Karl Heinrich Pohl und Harald Schmid. Außerdem werteten zwei Studentinnen Zeitungsartikel aus der Nachkriegszeit aus. Zwei andere andere befragten Schüler, was sie über die „Zweite Geschichte“ des Konzentrationslagers wissen und welche Präsentationsformen sie sich wünschen, wenn sie die Gedenkstätte besuchen. Die Datenmenge, die bei den Recherchen zusammenkam, ist enorm. „Wir haben 70 Gigabyte gespeichert“, sagt Tschirner.

Er unterscheidet mehrere Epochen des Erinnerns an das Lager – und des Vergessens. Vom Ende der 40er- bis Mitte der 70er-Jahre war das Konzentrationslager für fast alle Bewohner in der Region kein Thema. „Viele Menschen haben in Springhirsch eine unbeschwerte Kindheit verbracht“, sagt Tschirner. „Ihnen war nicht klar, was dort geschehen war, weil die Eltern nie darüber gesprochen haben.“ Andere wollten die historischen Tatsachen nicht wahrhaben, sagt der Historiker.

Auch andere Beispiele, die Tschirner recherchiert hat, belegen den Unwillen vieler Kaltenkirchener in den Nachkriegsjahrzehnten, an das dunkelste Kapitel ihrer Stadtgeschichte zu denken. Als der Hamburger Journalist Franz Ahrens 1965 in Kaltenkirchen recherchieren wollte und auf dem Marktplatz fragte, wo er das ehemalige Konzentrationslager finden könne, bekam er zunächst keine Antworten.

Der Historiker Tschirner kann auch das offenkundig mangelnde Interesse der Ermittlungsbehörden belegen, die Verantwortlichen für die Verbrechen im Lager vor Gericht zu stellen. Als die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg Anzeigen wegen Mordes gegen unbekannt stellte, leitete die Staatsanwaltschaft Ermittlungen ein. Sie wurden jedoch 1972 von der Staatsanwaltschaft Kiel eingestellt, obwohl viele Täter noch am Leben waren und Opfer als Zeugen über das Lagerleben berichten konnten.

Doch das Lager verschwand nicht nur aus dem öffentlichen Bewusstsein. Auch physisch gingen immer mehr Spuren verloren. 1976, als die Gesellschaft für den Großflughafen Kaltenkirchen das Gelände an der B4 übernahm, ließ sie die nahezu alle Gebäudereste vernichten. „Man ist dabei sehr gründlich vorgegangen“, sagt Tschirner. Auch die Bundeswehr auf dem damaligen Truppenübungsplatz neben dem einstigen KZ scherte sich kaum um die Vergangenheit. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion walzten 1983 Panzer eine ehemaligen Entlausungsstation nieder, die neben dem KZ auf der Flächen eines ehemaligen Kriegsgefangenenlagers stehen geblieben war. Damit waren auch die Pläne von Kaltenkirchener Friedensaktivisten dahin, eine Gedenktafel an der Ruine anzubringen.

Der Container spielt in der Präsentation eine zentrale Rolle

Ins öffentliche Gedächtnis zurück kehrte das Lager mit den Arbeiten von Gerhard Hoch und Mitte der 90er-Jahre mit den Grabungen zweier Studenten, die im Erdboden Fundstücke entdeckten und das Fundament der Lagerlatrine freilegten. „Damit wurde dieser Ort wieder greifbar“, sagt Anne-Lena Cordts, die in Kiel Raumstrategien studiert und sich die Geschichte der Fläche nach 1945 genau angeschaut hat. „Man erkennt an der Nutzung, wie die Menschen mit der Erinnerung umgegangen sind“, sagt sie.

Heute steht ausschließlich das Gedenken im Vorgrund, doch selbst diese Art der Nutzung hat 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs immer noch provisorischen Charakter. Das Dokumentenhaus mit der Ausstellung über das Lager ähnelt von außen einer Bauarbeiterbaracke. Nebenan steht ein 14 Jahre alter Container für Sonderausstellungen, dessen Geschichte inzwischen ebenfalls eine Facette der Erinnerungskultur widerspiegelt. Gerhard Hoch hatte damals das Häuschen selbst beschafft und eigenes Geld investiert.

Dieser Container spielt in der Präsentation von Cordts und Tschirner über die „Zweite Geschichte“ eine zentrale Rolle. Er soll nach ihrem Konzept einen Anbau erhalten und Ziel eines Rundgangs über einen Erkundungspfad zu den Spuren rund um das Gedenkstättengelände werden. In dem Container finden Besucher eine Karte mit Erklärungen der Spuren und Berichte von Zeitzeugen als Audiodateien an „Erinnerungsstationen“. „Der Besucher wird auch Momente der Leere finden“, sagt Anne-Lena Cordts. Zum Beispiel, wenn es um die 50er-Jahre geht. Am Ausgang könnte ein Platz stehen, an dem die Gäste ihren Besuch rekapitulieren und eigene Gedanken über die „Zweite Geschichte“ hinterlassen.

Vorbilder für ihr Konzept hatten Cordts und Tschirner nicht. Ob es in dieser Form realisiert wird, hängt von vielen Faktoren ab. Der neu gebildete wissenschaftliche Beirat der Gedenkstätte will das Konzept prüfen. Außerdem muss die Finanzierung sichergestellt werden. Die Studentin und der Historiker schätzen die Kosten auf mehr als 50.000 Euro.